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11.3.2025 Rosa Luxemburg Stiftung
Daniel Ortega war einer der führenden Köpfe der sandinistischen Revolution. Heute trägt er sie zu Grabe. Von Gerold Schmidt
Gerold Schmidt ist Diplom-Volkswirt und ausgebildeter Journalist. Er leitet das RLS-Regionalbüros in Mexiko-Stadt.
Jenen, die der Zeremonie beiwohnten, bot sich ein martialisches Bild, als Ende Februar das nicaraguanische Präsidentenehepaar, Daniel Ortega und Rosario Murillo, in der Hauptstadt Managua 30.000 Mitgliedern der «freiwilligen Polizei» den Eid abnahm. Viele sehen in den – bei ihrer Vereidigung in Blöcken und vermummt angetretenen – Polizeieinheiten eine paramilitärische Struktur, die in der Absicht geschaffen wurde, die Bevölkerung noch stärker zu kontrollieren und einzuschüchtern. Insofern zeigt die Zeremonie anschaulich, dass von den Idealen der linksgerichteten sandinistischen Revolution von 1979, die die Somoza-Diktatur stürzte, inzwischen nichts mehr übrig ist.
Die freiwillige Polizei ist ein Ergebnis der Reform von 100 Verfassungsartikeln, die die Macht im Land noch stärker auf Ortega und Murillo konzentriert. Der nicaraguanische Kongress ratifizierte die Änderungen am 30. Januar 2025 ohne jegliche Debatte. Die Verfassung formalisiert nun eine für das Ehepaar maßgeschneiderte «Ko-Präsidentschaft». Die für Ende 2026 vorgesehene Präsidentschaftswahl ist um ein Jahr verschoben, die Amtszeit auf sechs Jahre ausgeweitet. Faktisch und verfassungsrechtlich sind zukünftig alle staatlichen Institutionen einschließlich Legislative und Judikative direkt dem Präsidentenpaar rechenschaftspflichtig.
Das Militär gilt gegenüber Ortega als absolut loyal. Früher war es üblich, den jeweiligen Armeechef nach fünf Amtsjahren in den Ruhestand zu schicken. General Julio César Avilés hingegen steht bereits seit 15 Jahren an der Spitze der Armee. Ende Dezember 2024 bestätigte Ortega ihn ein weiteres Mal im Amt – nach der Verfassungsreform diesmal gleich für sechs Jahre. Weitere 20 hochrangige Generäle sind ebenfalls seit mindestens zehn Jahren auf ihren Posten.
Seit Jahren platzieren Ortega und Murillo zudem ihre Kinder an wichtigen Schaltstellen im öffentlichen und privaten Sektor. Sie versuchen auf diese Weise, den Grundsteinlegung für eine Familiendynastie zu legen. «Sie wollen alles kontrollieren, alles», sagt eine deutsche Beobachterin, die mehr 30 Jahre in Nicaragua lebte, inzwischen aber nicht mehr einreisen darf. Ihren Namen möchte sie nicht nennen, um Kontakte im Land nicht zu gefährden.
Nach einer ersten Amtszeit von 1985 bis 1990 im Anschluss an die kollektive Regierung der Nationalen Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) regiert der inzwischen 79-jährige Präsident seit 2007. Seine mehrfache Wiederwahl sicherte er durch ein auf ihn abgestimmtes Wahlrecht, aber auch durch geschickte Bündnispolitik. Inner- und außerparteilichen Widerstand manövrierte er geschickt ins politische Abseits.
Mit aller Macht gegen Kritik
Massive Proteste gegen die Kürzung von Sozialleistungen führten im April 2018 zu einer allgemeinen Rebellion gegen das Regime. Dieses schlug die Proteste unter Inkaufnahme von mehr als 350 Toten blutig nieder. Danach erreichte das Vorgehen gegen die Opposition eine neue Dimension: Das Regime schaffte ein Klima der Angst. Es ließ mehr als zweitausend politisch unliebsame Personen verhaften. Im Wahljahr 2021 gehörten dazu gleich sieben Präsidentschaftskandidat*innen. Doch damit nicht genug: Das Recht auf Haftprüfung vor Gericht ist abgeschafft, der Aufenthaltsort der Gefangenen wird den Angehörigen teilweise über längere Zeit vorenthalten. Viele Gefangene verbringen Monate in Isolationshaft; andere stehen unter Hausarrest und müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden, die Angehörigen bekommen Kontrollanrufe. Auch Staatsbedienstete sind in jüngster Zeit nicht mehr vor Verhaftungen sicher. Lehrer*innen müssen in einigen Regionen damit rechnen, dass ihre Handys überwacht werden.
Die nicaraguanische Menschenrechtsorganisation Colectivo Nunca Más hat Folter in den Gefängnissen dokumentiert. In der neuen Verfassung ist das Folterverbot aus dem Artikel 36 gestrichen. Zudem wirkt die Verfassung in diesen und anderen Fällen retroaktiv, was – um es vorsichtig zu formulieren – eine äußerst ungewöhnliche Rechtspraxis ist.
Ein Mittel, sich der politischen Opposition zu entledigen, ist die Deportation in die USA und nach Spanien. In den meisten Fällen war sie bisher verbunden mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft, dem Einzug des Vermögens und der Aberkennung der Rentenansprüche. Unter den Deportierten sind ehemalige Weggefährt*innen Ortegas, aber auch Vertreter der katholischen Kirche und Mitglieder der konservativen Opposition.
Nach Angaben des Informationsbüros Nicaragua hat die Regierung seit 2018 mehr als 5.500 Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Universitäten, Schulen und Bildungszentren geschlossen. Der Staat zog in den meisten Fällen deren Vermögen ein. Die Schließungen betrafen auch die angesehene Jesuitenuniversität UCA, die von Regierung als «Zentrum des Terrorismus» bezeichnet wurde.
Investigativen Journalismus gibt es so gut wie gar nicht mehr im Land. Viele der Medien, die ins Exil gehen mussten, nahmen angesichts beschränkter Optionen Finanzierungsangebote aus den USA an, auch von USAID. Angesichts des Stopps der Auslandshilfen durch Donald Trump stehen diese Medien nun vor dem Aus.
Das nicaraguanische Gesetz über ausländische Agenten erlaubt es, jegliche internationale Zusammenarbeit als unzulässige Einmischung einzustufen. Ein kritischer Bericht der Welternährungsorganisation FAO über den zunehmenden Hunger in Nicaragua etwa führte im Februar 2024 zum Austritt des Landes aus der Organisation. Die Regierung ordnete die Schließung der FAO-Büros in Nicaragua an. Gleiches widerfuhr wenig später den Büros der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Das Internationale Rote Kreuz hatte es schon 2023 getroffen. Rosario Murillo kündigte am 28. Februar zudem den «unwiderruflichen» Austritt des Landes aus dem UN-Menschenrechtsrat an.
Im Rückblick hat Daniel Ortega nach seiner Wahlniederlage 1990 gegen die konservative Opposition sein Comeback akribisch geplant. In der FSLN ist seine Hegemonie seit 1992 unangefochten. Lediglich 1998, als seine Stieftochter Zoilamérica ihn mit dem Rückhalt der starken feministischen Bewegungen in Nicaragua öffentlich des sexuellen Missbrauchs bezichtigte, war Ortegas weitere politische Karriere noch einmal gefährdet. Doch Zoilaméricas Mutter, Rosario Murillo, stellte sich auf die Seite ihres Ehemanns und gegen ihre Tochter. Ortega entging dann einer Verurteilung.
Das heutige Ko-Präsidentschaftspaar vergaß diese Schmach nicht. Ab 2007 und insbesondere nach 2018 ging es mit besonderer Härte gegen feministische Organisationen vor und zwang ihre führenden Persönlichkeiten fast ausnahmslos in Exil. Das bekannteste Beispiel ist die frühere Guerilla-Kämpferin und sandinistische Gesundheitsministerin Dora María Téllez. Nach Verhaftung, anderthalb Jahren Isolationshaft und weiterem Gefängnisaufenthalt schob das Regime sie im Februar 2023 zusammen mit weiteren 221 politischen Häftlingen in die USA ab und entzog ihr die Staatsbürgerschaft.
Bei der Verfolgung kritischer Stimmen machte Ortega selbst vor dem eigenen Bruder nicht Halt. Humberto Ortega, einer der neun führenden Kommandanten der sandinistischen Revolutionsregierung, stand seit Mai 2024 faktisch unter Hausarrest. Abgeschnitten von der Außenwelt und von lebensnotwendigen Medikamenten, kam er kurz darauf in ein Militärkrankenhaus, wo er Ende September 2024 starb.
Manche vergleichen das Ortega-Murillo-Regime inzwischen mit der Somoza-Diktatur, die 1979 von den Sandinist*innen besiegt wurde. Das ist nicht unbedingt zielführend. Die bereits zitierte deutsche Beobachterin meint, Somozas Diktatur habe stärker auf direkter blutiger Gewalt beruht. Außerdem seien die Kontrollmechanismen heute mittels elektronischer Überwachungsinstrumente viel ausgefeilter als damals. Sie spricht von einer «modernen Diktatur».
Gerät die Wirtschaft ins Rutschen?
Ungewissheit gibt es über den wirtschaftlichen Zustand Nicaraguas. Fast 40 Prozent der nicaraguanischen Exporte gehen in die USA. Zusätzliches Geld kommt über die Vergabe von Bergbaukonzessionen an internationale Konzerne, bei denen der Goldabbau im Vordergrund steht. Schätzungen zufolge sind inzwischen mehr als 20 Prozent der Landesfläche konzessioniert, darunter auch Teile von Naturschutzgebieten.
Auch wenn in den letzten Jahren die Präsenz chinesischer Unternehmen in Nicaragua zulasten Taiwans stieg, kann von einer dominierenden Rolle Chinas in der Wirtschaft noch keine Rede sein. Nicaraguas Wirtschaft stützt sich zudem stärker als andere mittelamerikanische Länder auf die Rücküberweisungen migrierter Landsleute an ihre Familien. Allein seit 2018 sind schätzungsweise 800.000 Nicaraguaner*innen aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen ins Ausland gegangen, die meisten in die USA. Vor allem die Jugend geht dem Land auf diesem Weg verloren.
Unter Trump ist nun das Bleiberecht von gut einer halben Million «Nicas» in den USA gefährdet. Das Parole-Programm, das auch den Nicaraguaner*innen ein befristetes Aufenthaltsrecht in den USA gewährte, wurde allerdings bereits im Herbst 2024 von der Biden-Regierung beendet. Massendeportationen und ein Einbruch der Rücküberweisungen, Strafzölle und wegfallende präferenzielle US-Importquoten im Rahmen des Mittelamerikanischen Freihandelsabkommens mit den USA (CAFTA-DR) könnten die Säulen der Wirtschaft des Landes ins Wanken bringen.
Eine realistische Alternative zu Ortega gibt es einstweilen nicht. Zu zersplittert und im Ausland zerstreut scheint die politische Linke nach der jahrelangen Repression. Auch die verschiedenen Bemühungen um ein breites Oppositionsbündnis scheiterten bislang. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen beispielsweise von konservativen Unternehmer*innen auf der einen Seite und den Vertreter*innen sozialer Organisationen und feministischer Gruppen auf der anderen. Wirkliche Veränderungen seien, so die Mehrheitsmeinung der Oppositionskräfte, wohl erst mit dem Tod des kränkelnden Ortega zu erwarten. Ko-Präsidentin Murillo wird in diesem Fall nicht zugetraut, die Machtfäden in der Hand zu behalten. In der Tat gilt die Loyalität der vom Regime profitierenden Eliten ihrem Mann, nicht ihr.
Manche, wie der deportierte Soziologe und Ökonom Oscar-René Vargas, hoffen derweil, das Familienregime werde einfach implodieren. Andere, wie die erwähnte deutsche Beobachterin, setzen auf die – Anfang der 2000er Jahre aktiv gelebte und umgesetzte – demokratische Mitbestimmung auf lokaler Ebene, deren Zeugin sie selbst war. «Das ist im positiven Sinn wie Unkraut, diese Erfahrungen einer lebendigen Demokratie bekommt man nicht mehr weg. Der Samen liegt da noch unter der Erde, tief eingebuddelt, aber keimfähig.» Leider seien viele der damals Beteiligten verfolgt, verhaftet und ins Exil getrieben worden. Angesichts des aktuellen globalen Kontextes befürchtet sie, dass bei einem Fall der Regierung konservative Kräfte aus dem Unternehmerlager das Ruder übernehmen. Doch vielen Menschen im Land und im Exil scheint selbst dies noch eine bessere Option zu sein als die weitere Regentschaft des Präsidentenpaares – und diese Haltung verrät viel über den Charakter des Regimes.