Der zu seinem 200. Geburtstag erschienene Sammelband zeigt, dass Engels uns immer noch viel zu sagen hat. Auch für mich erstaunlich nach ausführlichen Kapitalschulungen vor gut 40 Jahren. Schließlich sind auch im 21. Jahrhundert die von Friedrich Engels aufgeworfenen Fragen unbewältigt, die stattgefundenen Transformationen des Kapitalismus haben keines seiner Probleme gelöst. Dazwischen lag der Kalte Krieg und die dogmatische Adaption seines Werkes durch den sogenannten Ostblock und sich sozialistisch nennende Regime, die eine kritische Befassung mit der Politischen Ökonomie und der Dialektik von Engels erschwerten. Dass der unverstellte Blick darauf lohnt, zeigen die gut 20 Autor*innen, indem sie die Impulse für ihre Disziplinen, Ökonomie, Philosophie, Sozialwissenschaft oder Ökologie aufnehmen, um Zusammenhänge für aktuelle Fragen wie Digitalisierung, Geschlechterverhältnisse, Religion, technischer Fortschritt und Globalisierung zu erkennen. Dabei müssen Lösungen wegen der extremen kapitalistischen Dynamik einerseits radikal-global (im Sinne eines system change) gedacht andererseits kurzfristig, pragmatisch und lokal organisiert werden. Und in diesem Sinne hilft das Buch in einer doppelten Weise.
Es vermittelt dem Lesenden den Zugang zu Engels: seine Analyse der treibenden Kräfte gesellschaftlicher Entwicklungen, der Rückbezug aller aufscheinenden Widersprüche, Konflikte und Krisen auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die Dialektik der Natur und die Kritik der Herrschaftsverhältnisse. Schließlich sind viele der Widersprüche des 19. Jahrhunderts zu globalen Widersprüchen geworden. Landgrabbing und Vertreibungen, Migrationsströme, Klimakrise, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, mangelnde soziale Sicherung, Ressourcenkämpfe, Rohstoffkrisen, Abhängigkeiten von globalen Lieferketten, Überproduktions- und Absatzkrise, um nur einige zu nennen, sind die aktuellen Erscheinungen des globalen kapitalistischen Systems. Zwar hat Engels all diese Widersprüche in ihrer heutigen Spezifität nicht gekannt, aber er hat die Bewegungsgesetze der Geschichte entdeckt, auf die sich auch die aktuellen Krisen rückführen lassen. Marx und Engels haben in ihrer Politischen Ökonomie besonders das Privateigentum an den Produktionsmitteln, den Interessenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit und den Zwang zur permanenten Kapitalverwertung (erfahrbar als Wachstumszwang) hervorgehoben. Alle ökonomischen Kategorien lassen sich unmittelbar auf die Konkurrenz und das Privateigentum an den Produktionsmitteln (Maschinen, Fabrikgebäude, Arbeitskräfte, Rohstoffe, Bodenschätze) rückführen, woraus die Grundübel der kapitalistischen Gesellschaft, nämlich die (private) Aneignung von Arbeitskraft und Naturfaktoren, erklärbar sind. Dabei ist der Kapitalist nicht wirklich am Gebrauchswert oder der gesellschaftlichen Nützlichkeit der produzierten Waren interessiert, sondern nur am Tauschwert, damit dem Mehrwert oder Profit. Und ob er einen Tauschwert erhält, also sein Produkt in Qualität und Quantität verkaufen kann, entscheidet sich erst nachträglich am Markt und nicht durch eine gesellschaftliche Planung. Mit diesen einfachen Kategorien lassen sich alle Bewegungsgesetze erklären, ob es sich um die wachstumsfixierte Fleischindustrie mit ihren Subunternehmen und Werkvertragsverhältnissen oder eine globale Textilindustrie handelt, die in immer kleinere Arbeitsschritte aufgespalten, in verschiedene Subunternehmen (Rohstoffproduktion, Weberei, Färberei, Veredelung, Konfektion, Labelling und Handel) ausgelagert, über weltweite Lieferketten miteinander verbunden und unter globalen Kosten- und Konkurrenzdruck gestellt wird. Erst durch eine Aufhebung des Privateigentums, der Konkurrenz und der entgegengesetzten Interessen kann eine neue gerechte und nachhaltige Gesellschaft in Selbstbestimmung und ohne soziale Spaltung und Naturzerstörung entstehen.
Und indem die Autor*innen diese Impulse aufnehmen tragen sie dazu bei, Auswege aus der Krise zu finden, die mittlerweile zu einer globalen geworden ist. In mehreren Beiträgen wird kritisch auf die Wirtschaftswissenschaften eingegangen. Engels selbst bezeichnet die Nationalökonomie als „Bereicherungswissenschaft“, da sie den auf Privateigentum und Konkurrenz basierenden Verhältnissen moralische und wirtschaftliche Überlegenheit bescheinige. Auch heute noch täten die Wirtschaftswissenschaftler als handele es sich bei „Wirtschaft“ um einen eindeutigen und unumstritten konturierten Gegenstand. Sie beschränken sich dabei auf die kapitalistischen Akteure, die am Markt stattfindenden Transaktionen und damit auf eine spezifische Form von Wirtschaft. Nach Engels müssten alle Bereiche der gesellschaftlichen Produktion, also wie die Menschen sich mit Nahrung, Wohnraum, Kleidung versorgen können, einbezogen werden, also auch bei den Ökonomen ausgegrenzte Bereiche wie subsistenzwirtschaftliche Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, Hausarbeit, Kindererziehung, Altenbetreuung, genossenschaftliche Energieerzeugung, Landschaftspflege. Nur dialektisches und widersprechendes Denken in intellektueller Offenheit könne die Welt verändern (Lars Hochmann). Engels sei stattdessen ein Möglichkeitswissenschaftler gewesen. In diesem Sinne darf Ökonomie keine statische Sichtweise reproduzieren, sondern zielt auf Veränderung des Ökonomischen, ist historische Wissenschaft. Gerade im Zeichen weltweiter Klimastreiks findet gegenwärtig eine Rückeroberung des politischen Raumes durch neue gesellschaftliche Akteure und soziale Bewegungen statt. Nach Hochmann ist dies der Zeitpunkt, wo eine neue Wirtschaftswissenschaft als Möglichkeitswissenschaft erwachen, das Denken als Vorgehen erlernen und die neuen ökonomischen Logiken der Digital-, der Aufmerksamkeits- und der Finanzökonomie nicht nur beschreiben, sondern sie auch für die politische Gestaltung beherrschbar machen könnte.
In verschiedenen Beiträgen wird Engels Sichtweise eines gesellschaftlichen Naturverhältnisses hervor gehoben. Damit ist angesprochen, dass die Natur immer gesellschaftlich bearbeitete Natur ist und nicht tote Natur. Entscheidend für die „ökologischeFrage“ und damit auch für das Überleben der Menschheit ist das Verhältnis, das eine Gesellschaft in ihrer Produktionsweise zur Natur entwickelt. Für die kapitalistische Warenproduktion ist die Natur quasi kostenlose Materie, die privatem Produktionskapital hinzugeschlagen werden kann, die entstandenen Kosten werden „externalisiert“, in die Gesellschaft ausgelagert. In dieser Privatisierung der Natur erklärt sich die gesamte Klimakrise. Eva Bockenheimer plädiert dafür, nach dem „schematischen Weltanschauungssozialismus“ wieder das dialektische Denken für die heutigen Problemstellungen zu rehabilitieren: „Wir beherrschen unsere Produktionsverhältnisse nicht, weshalb uns unsere eigenen unbeherrschten Produktivkräfte als eine fremde Naturgewalt entgegentreten. Es ist unser eigenes unbeherrschtes Tun mit dem wir die ökologische Krise hervorbringen, -und übrigens auch die soziale Krise, denn es gelingt uns ebenso wenig, das Ausbeutungsverhältnis in der Arbeit abzuschaffen und Arbeits- und Lebensbedingungen einzurichten, die Rücksicht auf die menschliche Natur nehmen.“ Nach Engels müsse ein anderes Verhältnis zu unserer äußeren und unserer eigenen menschlichen Natur im Ganzen entwickelt werden, was in der Beherrschung der Produktionsweise durch die arbeitenden Menschen zum Ausdruck käme.
Nach Hennicke könne Engels Sichtweise eines gesellschaftlichen Naturverhältnisses der herrschenden Ökonomie zum Beispiel Erkenntnisse darüber verschaffen,
- dass sie durch die Naturvergessenheit Einsichten in stoffliche Zusammenhänge geradezu katastrophenträchtig ignoriert,
- dass die soziale und die ökologische Frage immer nur zusammen und im Kontext des gesellschaftlichen Naturverhältnisses gelöst werden können
- dass mit dem herrschenden Wachstumsfetisch und mit einer naiven Wachstumskritik die globalen Dynamiken der Kapitalakkumulation und Kapitalverwertung übersehen werden, ohne die eine sozial-ökologische Transformation nicht möglich ist
- dass die Externalisierung systemimmanente Tendenz von Kapitalverwertung, Konkurrenz und Kapitalakkumulation ist und nicht einfach mit Marktversagen erklärt werden kann.
Rainer Lucas setzt für die notwendige gesellschaftliche Transformation an der Bedeutung der Produktivkräfte an, dabei schlägt er einen Bogen bis Polanyi und Schneidewind und kritisiert ein auf technische Lösungen beschränktes Nachhaltigkeitsverständnis. Schon Marx/Engels haben auf den ambivalenten Charakter der kapitalistischen Produktivkräfte verwiesen: „diese entwickeln daher nur die Technik und die Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, in dem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergraben: die Erde und den Arbeiter“. Leitmotiv für den Umgang mit der Natur ist die ökonomische Verwertung. Naturwissenschaft stellt sich in den Dienst kapitalistischer Entwicklung, indem sie eine neuzeitliche bis heute gültige Verbindung von Naturbeherrschung und Steigerung des materiellen Wohlstands befördert. Die wissenschaftliche Arbeit zwingt die Natur mit Hilfe der mechanischen Künste in den Dienst des Menschen (Uta von Winterfeld). Für die notwendige gesellschaftliche Transformation stellt Polanyi drei Grundbedingungen auf:
- Der Industrialismus muß den Erfordernissen der menschlichen Natur untergeordnet werden,
- Die Wirtschaft soll statt auf Grundlage von ökonomischen Eigeninteressen auf gesamtgesellschaftlicher gemeinschaftlicher Grundlage organisiert werden,
- Jeder Schritt zur Integration der Gesellschaft sollte von einer Zunahme der Freiheit begleitet sein.
Das Verhältnis von Individualismus und Gemeinschaftlichkeit wird hier nicht einem Machtzentrum der Gesellschaft (etwa einer Parteiendiktatur) überantwortet, sondern politisch gestaltet, etwa durch demokratische Steuerung grundsätzlicher Investitionsentscheidungen, durch genossenschaftliche Formen oder eine Gemeinwohlökonomie. Zwar ist das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung mittlerweile zum UN-Programm geworden, die Ziele
- Grundbedürfnisse aller befriedigen, indem Gesellschaften das produktive Kapital vergrößern und zugleich gerechte Chancen für alle sicherstellen
- eine Begrenzung der Ressourcennutzung und der Belastung lebenserhaltender Ökosysteme, sodass sie auch noch zukünftigen Generationen zur Verfügung stehen
werden jedoch auch nach 50 Jahren Debatte regelmässig verfehlt. Die Herausforderung einer sozial-ökologischen Transformation bleibt angesichts des Weltzustandes dringender denn je. Ohne herrschaftskritische Sicht, ohne neue gesellschaftliche Akteure, ohne alternative Entwicklungspfade auf Basis eines anderen Natur- und Technikverständnisses, ohne eine Zunahme demokratischer Willensbildung und sozialer Selbstorganisation wird es nicht gehen (Lucas).
Deutlich wird auch Engels Schwäche, indem er die zukünftige sozialistische Gesellschaft nur sehr vage als „Reich der Freiheit“ bezeichnet. Zwar arbeitete er eine präzise Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft heraus, die die Ungerechtigkeiten der Verteilung des Einkommens, die Ausbeutung der Lohnabhängigen und die Übermacht des Kapitals gegenüber der Arbeit verurteilt. Ein „Reich der Notwendigkeit“ ist diese Gesellschaft jedoch nicht nur für die Lohnabhängigen, sondern auch für das Kapital, da beide den Marktmechanismen unterworfen sind, denen sie sich nicht entziehen können. Wie jedoch die freie Gesellschaft aussehen könnte, wie sie ihre Wirtschaft organisiert und die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion aufhebt ohne neue Zwangsmechanismen zu erzeugen, wird nicht beantwortet. Angesichts der vermeintlichen Alternativlosigkeit der herrschenden Verhältnisse ist jedoch Engels Begriff der realen Utopie unbedingt zu rehabilitieren (wie Reinhard Pfriem fordert). Wie aber diese Utopie der Vergesellschaftung auszusehen habe, in der “alle Produktionszweige durch die ganze Gesellschaft, d.h. für gemeinschaftliche Rechnung, nach gemeinschaftlichem Plan und unter Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft“ betrieben werden, bleibt noch zu entwickeln. Schon Engels hatte sich mehrfach gegen einen Staatskapitalismus als Lösung gewandt. Abgezielt wird hier eher auf „gemeinschaftsorientierte und gemeinschaftsgetragene Formen des Wirtschaftens, wo Entscheidungen dezentral getroffen werden und überregional koordiniert werden“ (Pfriem) statt auf Eigentumskonzentration und -kontrolle durch Parteistrukturen.
Es können hier nicht alle Themen genannt werden, in denen die Autor*innen Impulse von Engels aufnehmen, wie bei der Religionskritik, den Geschlechterverhältnissen, Wohnungsfrage, Stadtentwicklung, Selbstbestimmung. Selbst Anstöße für zukunftsfähige wohnungsbaugenossenschaftliche Konzepte arbeitet Burghard Flieger bei Engels heraus, so das Errichten neuer Wohnungen durch Bauarbeitergenossenschaften, der genossenschaftliche Mietwohnungsbau sowie staatliche Aktivitäten zur Unterstützung genossenschaftlicher Selbsthilfe.
Das Buch setzt sicher Grundkenntnisse der Politischen Ökonomie voraus, eignet sich aber trotzdem für Praktiker*innen, die mit einem radikalen Blick die Gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen und verändern wollen. Wer sich für gesellschaftspolitische Fragen der Gegenwart und ihre Verwurzelung in der Engelsschen Analyse des 19. Jarhunderts interessiert, dem sei dieses Buch empfohlen.