Das Informationsbüro Nicaragua hält die von den Studierenden angeführten Kämpfe für legitim und wir unterstützen die Forderungen
- nach einer regierungsunabhängigen Wahrheitskommission, die die Verantwortlichkeiten für die Ereignisse seit dem 18. April, die Toten, Verletzten. Entführten und Gefangenen restlos aufklärt
- nach der Ablösung der parteilich und willkürlich agierenden Polizeiführung,
- nach dem Abtritt der Regierung Ortega/Murillo und der Bildung einer breiten Übergangsregierung, und -ganz besonders-
- eines nationalen Dialogs unter Einschluss aller gesellschaftlichen Sektoren, der Bäuer*innen, Frauen- und Umweltbewegung, der Studierenden, der Antikanalbewegung, dem informellen Sektor und den Arbeitenden in den Maquilas.
Dies mag auf den ersten Blick manche überraschen. Denn die traditionelle Solidaritätsbewegung -ebenso wie das Informationsbüro Nicaragua- hat ihren Ursprung in der Unterstützung der sandinistischen Revolution 1979. Damals wie in der anschließenden Aufbauphase war die Solidarität mit dem Freiheitskampf des nicaraguanischen Volkes weitgehend deckungsgleich mit der Unterstützung der FSLN und später der Regierung, die uns Garant für die Fortentwicklung der Revolution schien. Außerdem schienen wir den gemeinsamen politischen Kampf gegen den Imperialismus zu führen. In Deutschland forderten wir den Abbruch der diplomatischen und Wirtschafts-Beziehungen der Regierung und bundesdeutschen Konzerne zu Somoza, später den Ausbau der Entwicklungshilfe und engagierten uns in Aufbaubrigaden und gegen die Hintermänner des Contrakrieges.
Allerdings haben sich die politischen Koordinaten der Solidaritätsarbeit mit Nicaragua in einer 40-jährigen Geschichte durch veränderte Bedingungen in Nicaragua, aber auch durch Veränderungen unseres eigenen politischen Kontextes und des globalen weltpolitischen Systems, wesentlich verschoben.
Zwar sind scheinbar nach 40 Jahren die handelnden Personen und Akteur*innen die gleichen. Dort sind es sowohl Ortega und sein engeres Umfeld, welches so handelt, als hätte gerade eine Revolution stattgefunden und redet als ob seine Regierung Garant sei für die Errungenschaften dieser Revolution, getreu der Losung „primero justicia despues democracia“ käme es auf demokratische Standards nicht mehr an.
Hier sind es die (älteren) Vertreter*innen der deutschen Solidaritätsbewegung, die die aktuelle Regierungspolitik an den spezifischen Ansprüchen, Utopien und Projektionen der revolutionären 80er Jahre messen.
Und last not least sind auch die Führungspersonen der meisten nicaraguanischen Nichtregierungs-Organisationen und sozialen Bewegungen als Aktivist*innen und spätere Dissident*innen aus dem Sandinismus hervorgegangen, dessen historische Errungenschaften sie heute gegen die aktuelle Regierung verteidigen.
Aber: Seit Beginn der 90er Jahre orientieren wir uns nicht mehr an der Machtergreifung einer Befreiungsbewegung, an einer Avantgardepartei und überhaupt an nationaler Befreiung und nationaler Revolution. Unsere Bezugspunkte sind seitdem die zahlreichen Basisbewegungen in Nicaragua, wie zum Beispiel Frauenorganisationen, Kleinbauernorganisationen, Umweltbewegungen, Kooperativenvereinigungen, globalisierungskritische Netzwerke, die Antikanalbewegung und kommunitäre Bewegungen. Es geht uns darum, die Solidarität zwischen den Menschen und ihren Kämpfen und Bewegungen zu stärken und nicht darum, sich mit einer Regierung oder gar einem Land oder “Volk” solidarisch zu erklären. Insofern ist der Begriff “Nicaragua-Solidarität” eigentlich auch irreführend.
1. Wir unterstützen politische Gruppen in Nicaragua gegen Ungerechtigkeiten und die soziale, politische und wirtschaftliche Unterdrückung. Wir solidarisieren uns mit ihren Initiativen, die zur Verbesserung ihrer Lebenssituation, Empowerment, politischer Selbstorganisation und Vertretung ihrer Rechte beitragen.
2. Wir tauschen uns mit Partner*innenorganisationen über Organisationsmöglichkeiten und politische Zielsetzungen aus. Dies erfolgt über unsere lang gewachsenen Kontakte und durch gegenseitige Begegnungs- und Lernreisen.
3. Wir bringen Informationen aus Nicaragua und Positionen unserer Partner*innenorganisationen in eine herrschaftskritische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit ein. Damit zeigen wir globale Machtverhältnisse auf und motivieren Menschen, sich selbst aktiv für eine Veränderung der Verhältnisse einzusetzen.
Mit wem und womit sind wir solidarisch?
Seit Beginn der 90er Jahre vertreten wir mit unseren Partner*innenorganisationen Ziele und Wertvorstellungen, die in der sandinistischen Revolution entstanden sind, und die heute gegen die aktuelle Regierung neu erkämpft bzw. verteidigt werden, die einen scheinbar linksprogressiven Diskurs führt, während sie demokratische Rechte mit Füßen tritt, im Bündnis mit den Unternehmern die Bodenschätze und natürlichen Ressourcen ausplündert, wichtige gesellschaftliche Gruppen von der Partizipation am Dialog über die Zukunft des Landes ausschließt sowie selektive Gewalt gegen alle einsetzt die sich dem aktuellen Regierungskurs widersetzen.
Dies ist zuerst und besonders die Frauenbewegung, die die individuellen Selbstbestimmungsrechte nach vorne gebracht und eine Kritik an Herrschaft, Paternalismus, Patriarchat und Macht übt. Und das nicht nur im Geschlechterverhältnis, sondern auch als Organisationskritik und als Forderung gegenüber dem paternalistischen Staat, wenn in asssistenzialistischer und klientelistischer Form Sozialzuwendungen oder Gelder aus Venezuela verteilt werden. Die Ortega/Murillo-Regierung hat die Interessen der Frauen dem Bündnis mit der Kirche und dem Aleman-Pakt geopfert, seit 10 Jahren geht die Frauenbewegung gegen das radikale Abtreibungsverbot, gegen Gewalt gegen Frauen und für die sexuellen und reproduktiven Rechte auf die Strasse.
Unsere Partner*innen fordern seit Jahren und nun – angesichts der extremen Repression durch die Regierung – mit besonderer Vehemenz, dass ihre elementaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte garantiert werden. Das Informationsbüro Nicaragua stellt sich hinter diese fundamentalen Forderungen. Wir teilen aber auch die darüber hinaus gehenden politischen Forderungen, die auf ein gutes Leben für alle abzielen. Die politischen Gruppen grenzen sich ab von klientelistischer Verteilungspolitik der Regierung Ortega: „Leben in Würde“ heißt gerechtere Verteilung von Eigentum und Ressourcen. Statt Sozialprogramme, Bildung und Gesundheitsfürsorge, soziale Infrastruktur von Venezuela zu finanzieren, muss eine nachhaltige Wirtschaftspolitik die Exportabhängigkeit, den Raubbau an der Natur und den Ausbau von Monokulturen überwinden und statt Prinzipien des wirtschaftlichen Freihandels die Bedingungen und Ressourcen für eine Ernährungssouveränität aufbauen.
Hierzu passt die Forderung nach sozialem (nichtkapitalistischem) Eigentum, das sich jenseits von Markt und Staat entwickeln kann, mit dem Zugang zu Produktionsmöglichkeiten und sozialer Netze zur Verteilung. Die kleinbäuerliche Agrarproduktion als Kern einer Überlebensökonomie und Garant der Ernährungssouveränität muss rechtlich abgesichert, durch Kleinkredite unterstützt und mit anderen Kooperativen- und kommunitären Eigentumsformen zu einer solidarischen Ökonomie fortentwickelt werden.
Damit hängt auch die wichtige Rolle der Selbstorganisation in der Zivilgesellschaft als Kritik an der Parteienhegemonie zusammen. Soziale Bewegungen sind ja gerade im Sandinismus gegen die Diktatur entstanden, konnten in den 80er Jahren Organisationserfahrungen gewinnen („vamos haciendo la historia„), boten die notwendige Selbsthilfe in den neoliberalen Jahren und wehrten sich gegen die Vereinnahmung durch die Avantgardepartei an der Macht. Kommunitäre Bewegungen nehmen das „ley de participación ciudadana“ (deutsch: Gesetz zur Bürgerbeteiligung) ernst und versuchen, in ländlichen Regionen und marginalisierten Vierteln basisdemokratische Prozesse politischer Bildung zu etablieren, die Rechte der Bürger*innen in der kommunalen Selbstverwaltung zu stärken und Kampagnen zur Ernährungssouveränität und zum Umweltbewusstsein zu führen. Das kollidiert wiederum oft mit parteilich dominierten Entscheidungsstrukturen.
Schliesslich müssen demokratische Freiheiten Hand in Hand gehen mit der sozialen Gerechtigkeit. Das ‚patria libre‘ (‚freie Vaterland‘) des sandinistischen Aufstands der 70er Jahre führte in den 80ern zu neuen partizipatorisch-plebiszitären Strukturen (cabildes municipales, cara al pueblo) und wird heute Forderung an den Staat, Bürgerfreiheiten, Meinungs-, Rede- und Organisationsfreiheit zu garantieren. Mit welcher Berechtigung wird Frauenbewegungen und kommunitären Bewegungen untersagt, politische Ideen auch auf der Straße zu vertreten? Gerade für ein „linkes Projekt“ sind demokratische Standards, breite Partizipation und offene Diskussionen über die Zukunft des Landes unabdingbar; das Auseinanderdividieren von sozialen und politischen Forderungen wäre verhängnisvoll.
Dazu braucht es unabhängige professionelle, verfassungsmäßig und korruptionsfrei arbeitende Staatsorgane. CENIDH (Centro Nicaragüense de Derechos Humanos; deutsch: Nicaraguanisches Zentrum für Menschenrechte) weist darauf hin, dass der Kampf gegen Somoza auch um verfassungsmäßige Staatsorgane gegangen ist und um eine Regierung, die eine professionelle Ausübung der Staatsmacht gewährleistet, statt sich Apparat zum Machterhalt zu sein. Die Verfassungsgrundsätze der 80er Jahre werden heute dem Machterhalt der Regierung Ortega/Murrillo geopfert.
Unsere Partnerorganisationen haben in der Vertretung dieser Forderungen selektive Repression und Stigmatisierung erfahren. Bisher waren sie Minderheit. Fernando Cardenal, Erziehungsminister (1984-1990) und Organisator der nationalen Alphabetisierungskampagne setzte große Hoffnung in die Jugendlichen, denen die Gesellschaft eine wichtige Aufgabe zuweisen möge. Ellos son mi esperanza. Sólo hace falta que la sociedad les ofrezca una causa grande, noble, bella, si es difícil, mejor, y que al frente de ella haya personas con autoridad moral. Yo espero que los jóvenes regresen a las calles a hacer historia, sagte er kurz vor seinem Tode. Heute sind die Jugendlichen auf die Straße zurückgekehrt und haben die Anliegen der Frauenbewegung, der Bäuerinnen, der Antikanalbewegung und der Umweltbewegung zu Anliegen der Mehrheit gemacht. Der nationale Dialog und das Bündnis der Student*innen mit diesen Gruppen muß garantieren, dass soziale Forderungen und Rechte nicht aus dem Auge verloren und mit demokratischen Rechten und breiter Partizipation verbunden werden. Auf die Frage „Gerechtigkeit oder Demokratie?“ kann es nur eine Antwort geben: „Beides!“
Wenn die Zeit ohne eine Lösung verstreicht, wird das Kapital seinen Pakt mit Ortega erneuern oder es wird sich wieder des Staates bemächtigen. Die Solidaritätsbewegung zieht Kraft daraus, wenn verschiedene Generationen in der „Nicaragua-Solidarität“ heute zusammenarbeiten.