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Linke Utopien und Praxis in Lateinamerika: Rezension

Matei Chihaia/ Klaus Heß/ Peter Imbusch (Hg.): Von Engels gelernt? Linke Utopien und emanzipatorische Praxis in Lateinamerika

nahua script 19, Informationsbüro Nicaragua e.V., Wuppertal, 2021,  204 Seiten, 8 Euro plus Versand

Nach Wahlniederlagen, Amtsenthebungen und Putschen, dem „Scheitern des Progresismo“, wird linke Nabelschau gehalten: Wie… „aus der Krise“, … „ins postkapitalistische Zeitalter“, welche… „Perspektiven“ – regelmäßig, auch hier, in Lateinamerika anders. Gegen Frust und endlose Wiederbelebungseuphorien hilft dabei vielleicht ein Blick auf die „Klassiker“. Ein solcher wurde anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels im letzten Jahr auf einer Konferenz geworfen, deren Beiträge nun erschienen sind: tiefgründig, gedankenreich, inspirierend. Aus Europa importierte Marxismen hatten und haben – neben eigenen Fehlern und Versäumnissen – auch mit mächtigen Feinden des Sozialismus zu kämpfen. Sie waren mit Paradoxien konfrontiert: „Während die Studenten in Paris gegen die Konsumgesellschaft kämpfen, (treten…) die Studierenden und Arbeiter in Lateinamerika für sie ein.“ Fehlende Proletarisierung der Gesellschaften wird festgestellt und eine Refeudalisierung – im Sinne von ungeheuren sozialen Gegensätzen. Álvaro García Linera, der ehemalige bolivianische Vizepräsident und Soziologe, wird zitiert, der vor ökonomischem Determinismus warnt: Entwicklung sei nicht automatisch gleich Entwicklung des Proletariats. Aber liegt die Crux nicht doch im Widerspruch, dass der Neoliberalismus einerseits soziale und ökologische Probleme von ungeheuren Ausmaßen produziert, andererseits aber auch wissenschaftlich-technischen Fortschritt – und dass es in globalem Maßstab zu einer bedeutenden Armutsreduzierung gekommen ist? Ist es also nicht so, dass, während die Revolution weiter auf der Tagesordnung bleibt, bisher auch die Produktivkraftentwicklung noch munter voranschreitet?

Alternativen sind gefragt. Im zweiten Themenblock werden emanzipative Projekte vorgestellt: Arbeiterselbstverwaltung, Indigenismus, Autonomie (wobei das umfassendste Forschungsprojekt dazu leider gar nicht erwähnt wird: www.latautonomy.com).

Im letzten Teil glänzen die Doyens des Lateinamerikanismus. Detlev Nolte warnt vor einer Überstrapazierung des Begriffs Staatsstreich und vergleicht den Sturz Salvador Allendes am 11. September 1973 mit dem von Manuel Zelaya in Honduras (2009) und Evo Morales in Bolivien (2019) sowie den Amtsenthebungen von Fernando Lugo in Paraguay (2012) und Dilma Rousseff in Brasilien (2016). In Uruguay, darauf weist er am Rande hin, ist die Frente Amplio nach drei aufeinanderfolgenden Regierungen auch einfach abgewählt worden. Er sieht dabei auf der Linken eine geringe Neigung zur Selbstkritik, einen Hang zum Personenkult und teilweise Autoritarismus – was nicht fällt, ist das Wort Sektierertum. (Letzteres wird später von Klaus Meschkat ausführlich anhand der unheilvollen Rolle der Komintern unter der Führung Moskaus seziert.) Strategische Fehler der Amtsinhaber und das breitere politische und soziale Umfeld, das Machtwechsel begünstige, geraten so oft aus dem Blick. Nicaragua und Venezuela sieht Nolte heute als Ballast für progressive Projekte.

Schade ist, dass der „sozialistische Prototyp“, Kuba, nur auf sechs Seiten analysiert wird, allerdings dennoch profund. Egalitäte Kernelemente wurden dort gegen alle Widerstände und Widrigkeiten verteidigt. „In Cuba war der Sozialismus keine Produktionsweise, sondern eine Verteilungsweise“, zitiert Bert Hoffmann einen kubanischen Freund. Und eine „Verteidigungsweise“, möchte man hinzufügen. Ohne die Hilfe der Sowjetunion und später Venezuelas wäre es wohl kaum gelungen. Dass heute Familienüberweisungen aus dem Ausland eine wichtige Stütze der Wirtschaft sind, gilt beileibe nicht nur für Kuba. Doch auch dies hatten sich die Klassiker anders vorgestellt, wenn die Produktionsverhältnisse zum Hindernis für die Produktivkraftentwicklung werden und dieser Widerspruch – über den Hebel des Klassenkampfes – zur Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise in einer sozialistischen führen würde.

Ein wichtiges Buch, das an vielen Ansatzpunkten zum Nachdenken anregt.

Robert Lessmann (Rezension in Lateinamerika Anders, 3/2021)