Am 10. November ist Silke Helfrich (* 1967, +2021) bei einer kurzen Bergtour tödlich verunglückt. Ich bin fassungslos, noch fehlt mir die Vorstellungskraft für ihren Tod.
Die Beziehung von Silke zum Infobüro war eine wechselseitige des Geben und Nehmen, des voneinander lernens. Sie geht bis 1994 auf eine gemeinsame sehr emotionale vierwöchige Reise zu den Partnerorganisationen des Infobüro Nicaragua mit dem Schwerpunkt der Landfrage und Kooperativenbildung zurück. Wir spürten der Frage nach, welche Richtung die Landkämpfe bekommen könnten in der neuen neoliberalen Phase angesichts des Rückzugs des Staates, und wie sich diese Landkämpfe von der sandinistischen Agrarreform in staatlicher Organisation unterscheiden. Welche Selbstorganisationskompetenz können Bäuerinnen im Rahmen einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft entwickeln, wie können sie sich kollektiv und kooperativ organisieren jenseits von Staat und Weltmarktzwängen? In vielen Besuchen, Interviews und Gesprächen wuchs das Material für ein gemeinsames Büchlein „LandLos“ (Nahua Script 12). Silke war eindeutig ostdeutsch geprägt. Sie hatte Philologie/Romanistik, Sozialwissenschaften mit ökonomischem Schwerpunkt und Pädagogik an der Karl-Marx-Universität Leipzig studiert und brachte die kritische Staatsferne in unsere Diskussionen für eine neue internationalistische Subsistenzperspektive ein. Während die Reise für uns die Grundlage schuf, uns weiter von der Fixierung auf Avantgardepartei, paternalistischem Staat und nationaler Befreiungsvorstellung zu lösen, schuf sie für Silke die Basis für ihre Liebe zu Lateinamerika, die bis zu ihrem Tode anhielt.
Von 1996 bis 1998 arbeitete sie für die Heinrich-Böll-Stiftung in Thüringen und leitete von 1999 bis 2007 das stiftungseigene Regionalbüro für Zentralamerika, Kuba und Mexiko. Als sie für die Böll Stiftung in San Salvador und Mexico war, konnten wir unseren Kontakt halten und uns weiter austauschen.
In den darauffolgenden Jahren haben wir uns mehrfach bei Wuppertal-Besuchen getroffen, wenn sie zu Vorträgen eingeladen war (z.B. Februar 2004: Räume gemeinsamer Zukünfte SYMPOSIUM Bergische Universität Wuppertal). Dabei ging es zunehmend um ihr zweites Lebensthema, ihr Einsatz für Gemeingüter jenseits von Markt und Staat. Silke war Mitgründerin des deutschsprachigen Commons-Instituts und betrieb den CommonsBlog. Sie war Teil der Commons Strategies Group und wurde zur wichtigsten deutsch-sprachigen commons Autorin.
Besonders die Verbindung ihres Engagements für Mittelamerika mit dem Einsatz für die Gemeingüter hat uns in vielerlei Weise inspiriert. So hat sie einen wesentlichen Beitrag zur Finissage der Wuppertaler Lateinamerika-Tage 2010 geleistet, zu der wir sie zusammen mit dem Botschafter Boliviens zum Thema: „Buen Vivir“ und „Commons“ – Konzepte für ein besseres Lebeneingeladen hatten. Während der Botschafter über das buen vivir als zentrales Element in der neuen Verfassung seines Landes sprach, war für Silke das „Gute Leben“ nicht allein durch seinen Einzug in die Verfassungen gewährleistet. Für sie ist das Konzept der „Commons“ (Gemeingüter) einer der wichtigsten Zugänge zur Umsetzung des guten Lebens. Dabei hat sie immer klar gemacht, dass es für sie nicht um Konstruktionen, sondern um das gemeinsame soziale Handeln geht.
Auch bei der internationalen Tagung: „Nicaragua und die Zukunft linker Politik“ 2019 in Berlin hat sie uns in ihren Beiträgen beim Wirtschaftspanel wichtige Impulse gegeben:Für Silke bedeutet Commons „(Auf-)Gabe, Verantwortung und gemeinsame Pflicht. Uns steht etwas zu, aber wir haben auch die Pflicht es einzulösen, wie im mittelhochdeutschen Wort Allmende ausgedrückt: Allen in der Gemeinschaft abwechselnd zukommend. Zentrales Subjekt ist nicht DAS Volk, DER Nationalstaat, DIE Menschen in Deutschland, sondern tatsächlich die communities. Das haben die Zapatistas schön formuliert: ICH bin schon viele communities. Jede und jeder ist in ganz vielen communities, mit denen sie/er sich engagieren, identifizieren, etwas produzieren kann, wo ich Kreativität in unterschiedlichen Bereichen entfalten kann. Dafür braucht es tatsächlich andere Regeln als die wir von Markt und Staat kennen.“ (nachzulesen in Nahua Script 18: Nicaragua und die Zukunft linker Politik)
Die aktuelle Demokratiekrise kann nur durch offensive Demokratieansätze von unten unter Einschluß von demokratischem und sozialem Eigentum gelöst werden, das haben wir von Silke gelernt. Als wir letztes Jahr um Silkes fachliche Unterstützung für das neue Bildungsheft zu Demokratie im Fokuscafe Lateinamerika für junge Leute anfragten, verwies sie uns auf ihr commons-Beispiel:
„Oder reisen wir zu einem der größten Binnenseen der südlichen Hemisphäre, dem Lake Taupo in Neuseeland, der für seine See- und Regenbogenforellen bekannt ist. Trotz dieses Forellenreichtums stehen sie nicht auf den Speisekarten der anliegenden Restaurants. Die Angellizenzen für den Taupo und andere Seen in der Region enthalten nicht nur einen cap, definieren also eine Obergrenze, das »daily bag limit« (täglich darf so viel gefischt werden, wie in eine Tüte passt); sie erklären auch die geangelten Forellen für nicht-veräußerbar. Wörtlich heißt es: »Es ist illegal, Forellen zu verkaufen oder zu erwerben«. Wer also Forellen in einem der aussichtsreichen Restaurants rund um den See speisen möchte, muss sie selbst angeln, kann sie mitbringen und bekommt sie angelfrisch zubereitet.“[1]
Ihr Engagement für ein demokratisches und soziales Eigentum müssen wir nun alleine und doch nicht ohne sie fortsetzen.
Hasta siempre, Silke
Klaus Heß, Barbara Lucas und Thomas Weyland sowie das Team des Infobüro Nicaragua
[1] https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4530-9/frei-fair-und-lebendig-die-macht-der-commons/, S. 216/217