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Die Straflosigkeit durchbrechen

Hinter der Verletzung der Menschnrechte in einem Land gibt es immer einen Handlungsplan

“Detrás de la violación de derechos humanos en un país, siempre hay un plan de negocio” | Internacional | EL PAÍS (elpais.com) 10.6.2023

Der Vorsitzende der UN-Menschenrechtsexpertengruppe zu Nicaragua Jan-Michael Simon forderte in einem Interview in EL Pais am 10.6.2023 die internationale Gemeinschaft auf, Schritte zu unternehmen, um die Mechanismen der internationalen Justiz anzuwenden. Er gibt Hinweise darauf, dass wir auch in Deutschland oder koordiniert in Europa etwas tun können, um die Straflosigkeit zu durchbrechen.

Der Rechtswissenschaftler Jan-Michael Simon hat bereits einen großen Teil seines Lebens dem Kampf gegen die Straflosigkeit vor allem in Lateinamerika gewidmet. Er spricht perfekt Spanisch  und arbeitete bereits bei den Kommissionen  gegen Korruption und Straflosigkeit in Honduras und Guatemala mit. Nachdem die Expertengruppe im März 2023 ihren ersten Bericht vorlegte, wurde ihr Mandat um zwei Jahre verlängert und diese Zeit will die Gruppe nun nutzen, um konkrete Verantwortlichkeiten für die begangenen Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua benennen zu können.

Nach den wichtigsten Empfehlungen des Berichts gefragt, antwortet er:

„Die erste ist, dass rechtliche Schritte gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen für die Verbrechen eingeleitet werden sollten. Zweitens sollten die Sanktionen auf diese Personen ausgedehnt werden, und zwar individuell und nicht sektorbezogen. Und schließlich sollte die Vergabe für internationale Entwicklungszusammenarbeit und Investitionsprojekte (einschließlich internationaler Kredite)  an Garantien für die Achtung der Menschenrechte gebunden werden. Der letztgenannte Punkt hat die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Was den IWF betrifft, so hat sein Exekutivdirektorium am 27. Januar eine Stellungnahme abgegeben, in der es feststellt, dass Managua Schritte zur Verbesserung der Regierungsführung und des Rahmens für die Korruptionsbekämpfung unternommen hat, und der IWF hat  insbesondere die Verbesserungen bei der Kontrolle der Geldwäsche und der steuerlichen Transparenz begrüßt. In unserem Bericht jedoch stellen wir fest, dass das Regime den rechtlichen Rahmen der Geldwäsche und die Instrumentalisierung der Justiz für die politische Verfolgung von zivilen Organisationen und Einzelpersonen genutzt hat, und wir kommen zu dem Schluss, dass sie Teil eines weit verbreiteten und systematischen Angriffs gegen die Bevölkerung waren und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit der politischen Verfolgung einzustufen sind. Es gibt 50 Länder, die sich für die Verlängerung unseres Mandats ausgesprochen haben und die mehr als 50 % der direkten Stimmrechte im Exekutivdirektorium des IWF repräsentieren. Wie kann es möglich sein, dass diese Länder einerseits diese positive Stellungnahme billigen und andererseits einen Bericht wie den unseren, der das Gegenteil verteidigt? Das ist ein offensichtlicher Widerspruch.“

Weiterhin führt er aus, welche Widersprüche es zwischen aussenpolitischen Erklärungen und finanzpolitischer Kontrolle gibt, bei der bisher keine menschenrechtlichen Kriterien berücksichtigt werden. Dies wäre also ein zentraler Ansatzpunkt für Forderungen an die Bundesregierung, an Abgeordnete und an die Institutionen der Kreditvergabe und Entwicklungshilfe.

„Ein führender europäischer Diplomat erklärte mir, dass sich dieser Widerspruch auch auf die Beziehungen zwischen dem Außen- und dem Finanzministerium auswirkt, denn in seinem Fall wandte er sich an das Finanzministerium, um es zu bitten, die Menschenrechtssituation in Nicaragua zu berücksichtigen, und es antwortete ihm, dass es daran nicht interessiert sei. Sie seien nur an der makroökonomischen Leistung interessiert. Ich kann sagen, dass Nicaragua bei weitem die höchsten Nettoeinnahmen im Verhältnis zum BIP in Zentralamerika hat. Dem OECD-Bericht vom Mai zufolge liegt es bei 27 %. Bei allen Indikatoren für Rechte und menschliche Entwicklung nimmt das Land jedoch einen der schlechtesten Plätze in Lateinamerika ein, zusammen mit El Salvador, Guatemala und Honduras. Wo geht das Geld hin? Und hier kommen wir zur Korruption. Korruption hat eine menschenrechtliche Dimension, die sich nicht nur in der Verteidigung des politischen Status quo manifestiert, um mehr zu stehlen. Wenn es ein Land gibt, in dem das Missverhältnis zwischen Einnahmen und Menschenrechten offensichtlich ist, dann ist es Nicaragua. Wir haben den Auftrag, den Ursachen des Konflikts auf den Grund zu gehen, und diese liegen nicht nur in der einfachen Demontage des Systems der Gewaltenteilung, sondern es steckt ein Geschäftsplan dahinter. Hinter einer Menschenrechtsverletzung von solchem Ausmaß steht immer ein Geschäftsplan. Immer!“

Damit verweist er auf die ungeheuren Reichtümer, die der Ortega-Clan und die ihm treu Ergebenen angehäuft haben. Jede neue Menschenrechtsverletzung, wie zuletzt die zusätzliche Vergabe von Schürfrechten an chinesische Konzerne an der Atlantikküste ohne Konsultation der indigenen Gemeinschaften, führt zu größeren Profiten für die Herrschenden.

Jan-Michael Simon zeigt aber auch Handlungsmöglichkeiten auf:

„Es gibt mehrere Möglichkeiten. Es wird vergessen, dass Nicaragua zwar das Statut von Rom nicht ratifiziert hat, aber es hat die UN-Konvention gegen Folter ratifiziert, und wir haben in unserem Bericht Folter auf verschiedenen Ebenen festgestellt. Jedes Land, das den Vertrag unterzeichnet hat, kann Nicaragua gemäß Artikel 30 vor dem Internationalen Gerichtshof verklagen, und das hat eine sehr wichtige politische Botschaft. Es gibt Präzedenzfälle: Wer könnte eine solche Initiative ergreifen? Die USA könnten es nicht, weil sie einen Vorbehalt gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs für das Übereinkommen gegen Folter eingelegt haben, aber Spanien könnte es zum Beispiel. Das politische Risiko besteht darin, dass Ortega damit ein gutes Argument hätte, um sich als Opfer der Länder des Nordens darzustellen. Deshalb wäre es wichtig, dass ein lateinamerikanisches Land so eine Klage erhebt. Das Gleiche gilt für ähnliche Initiativen im Rahmen des Übereinkommens von 1961 über den Entzug der Staatsbürgerschaft.

Eine weitere Möglichkeit ist die extraterritoriale Strafgerichtsbarkeit, nicht die universelle Gerichtsbarkeit, denn es gibt Opfer, die eine doppelte Staatsangehörigkeit haben, und allein diese Tatsache würde die Zuständigkeit für den Fall begründen, zum Beispiel für Spanien, Frankreich, Brasilien, die USA oder Deutschland. Unser Bericht hat für jedes Land, das eine Untersuchung einleitet, Beweiskraft, und in einigen Ländern reicht die Beweiskraft sogar aus, um einen Haftbefehl zu erlassen.

Der andere Weg ist die universelle Zuständigkeit, d. h. Länder könnten unabhängig von der Nationalität des Opfers Maßnahmen ergreifen, wie im Fall von Spanien und Deutschland. Ortega reist nicht, aber es gibt mittlere Führungskräfte, die das tun. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass viele von ihnen Vermögen im Ausland haben und die Möglichkeit besteht, gegen ihr Vermögen vorzugehen, was nicht mit Sanktionen verwechselt werden darf.“

Im Verlauf des Interviews begrüßt er noch das Angebot Spaniens, ausgebürgerten Nicaraguaner*innen die Staatsangehörigkeit anzubieten und äussert sich zur Rolle Chiles und Brasiliens.

Am Ende wird er gefragt, ob man Ortega jemals vor einem Tribunal wie dem von Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg sehen würde und er antwortet:

„Ich bezweifle das. Aber es gibt viele Wege zur Gerechtigkeit, wenn der Wille und die Konsequenz vorhanden sind. Wir haben hinreichende Gründe für die Schlussfolgerung, dass das Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von politischer Verfolgung begeht, was im internationalen Strafrecht als der „kleine Bruder“ des Völkermords gilt. Die Leute denken immer an den Holocaust, die Todeslager der Roten Khmer, Ruanda oder die Massaker auf dem Balkan, aber man muss nicht Millionen von Menschen töten, damit die internationale Gemeinschaft handelt.“

Ich hoffe, wir können bei einem Vernetzungstreffen demnächst darüber sprechen, welche koordinierten Aktivitäten wir unternehmen können, um von Deutschland aus in diesem Sinne tätig zu werden. B.L.

 Grupo de Expertos de Derechos Humanos sobre Nicaragua de la ONU (GHREN Group of Human rights experts on Nicaragua) UN-Menschenrechtsexpertengruppe zu Nicaragua