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Zum Tod von Humberto Ortega (FSLN)

Ein Beitrag von Matthias Schindler (erscheint in SOZ Sozialistische Zeitung)

Am 30. September 2024 ist Humberto Ortega, der Bruder des nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega, im Militärkrankenhaus von Managua gestorben. Er stand de facto unter Hausarrest, war völlig isoliert und selbst für seine engsten Familienangehörigen nicht erreichbar. In einer Audiobotschaft, die er über ein Mobiltelefon verschickte, das er noch für Notfälle in seinem Haus versteckt hatte, erklärte er, dass er ein politischer Gefangener des Ortega-Regimes sei und dass er sich ausschließlich für die Versöhnung und den Frieden in Nicaragua einsetzen wolle. Diese Nachricht war die letzte Botschaft seines Lebens.

Hausarrest

Am 19. Mai 2024 wurde das Haus von Humberto Ortega von Dutzenden schwer bewaffneter Polizisten gestürmt und besetzt. Humberto wurde aller elektronischen Kommunikationsmittel – Mobiltelefone, Computer, Fernseher und Radios – beraubt, und er wurde seitdem vollständig daran gehindert, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Er war ein Gefangener unter Hausarrest und totaler Isolation. Außerdem wurde ihm die notwendige medizinische Versorgung vorenthalten, die er brauchte, weil er bereits 77 Jahre alt war und an mehreren schweren Gesundheitsproblemen litt, darunter Diabetes und Herzinsuffizienz. Das Präsidentenehepaar Ortega-Murillo ordnete diese Repressionsmaßnahme nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung eines Interviews mit Humberto Ortega auf der argentinischen Internet-Plattform infobae an. In diesem Interview kritisierte dieser die repressive Politik der Regierung, stellte die Führungsqualitäten von Vizepräsidentin Murillo in Frage und sprach sich für Verhandlungen mit der Opposition aus mit dem Ziel, freie Wahlen unter internationaler Beobachtung zu durchzuführen.

Verdammung Humbertos

Auf einer großen öffentlichen Veranstaltung unter Teilnehme der Führungsspitzen von Armee und Polizei verdammte Daniel Ortega am 28. Mai seinen Bruder Humberto als „Verräter“, der „seine Seele an den Teufel verkauft“ habe, weil dieser 1992 – vor über 30 Jahren! – einen Orden der nicaraguanischen Armee an einen Offizier der US-Armee verliehen hatte, ein Ritual, das der Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und Nicaragua dienen sollte.

Am 11. Juni wurde Humberto in das Militärkrankenhaus eingeliefert. Von da an hatte er keinerlei Kontakt mehr zu seiner Familie und starb am 30. September in völliger Isolation. Das Präsidentenehepaar nahm Humbertos Botschaft nicht als Initiative zur friedlichen Versöhnung für ganz Nicaragua wahr, sondern als einen unbotmäßigen politischen Angriff auf sie selbst und insbesondere als eine inakzeptable Beleidigung der Vizepräsidentin Murillo.

Historische Rolle

Humberto war einer der neun Comandantes de la Revolución, die die Sandinistische Revolution (1979-1990) anführten. Er war einer der wenigen noch lebenden historischen Führer der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) und einer der wichtigsten politischen und militärischen Strategen dieser Bewegung. Er nahm – im Gegensatz zu Daniel Ortega – an mehreren militärischen Aktionen der FSLN teil und wurde dabei 1969 so schwer verletzt, dass er die Beweglichkeit seiner beiden Hände weitgehend verlor. Per Funk leitete er 1979 die Endoffensive gegen den Diktator Somoza und war von 1979 bis 1995 Oberbefehlshaber der nicaraguanischen Armee. Er war aber auch der wichtigste Förderer des Aufstiegs von Daniel Ortega, zunächst in der FSLN, dann in der Sandinistischen Revolution. Nach der Wahlniederlage der FSLN im Jahr 1990 handelte er die Machtübergabe an die siegreiche konservativ-liberale Opposition aus und sicherte sich dabei auch seinen Verbleib an der Spitze der Armee unter der neuen Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro. Er nutzte auch die Verkleinerung der Armee nach dem Ende des Bürgerkriegs dazu aus, durch den Verkauf der Waffen, die Nicaragua nicht mehr benötigte, zum Millionär zu werden. Hinter den Kulissen war Humberto immer der starke Mann der FSLN. Daniel Ortega gelang es erst, wirklich aus dem Schatten seines Bruders herauszutreten, nachdem Humberto 1995 von der Präsidentin als Oberbefehlshaber der Armee abgesetzt worden war.

Während der Sandinistischen Revolution gab es das eherne Gesetz der Solidarität innerhalb der Nationalen Leitung der FSLN und des geschlossenen Auftretens nach außen. Dieser Grundsatz wurde damals auch fast immer eingehalten. In der aktuellen Phase der Ortega-Diktatur ist jedoch niemand mehr vor der Verfolgung des Despoten, bis hin zur tödlichen Unterdrückung, sicher – nicht einmal sein eigener Bruder.

Unehrliche Kritik

Der Tod Humberto Ortegas hat in Nicaragua eine vehemente Debatte über seine Rolle während der Sandinistischen Revolution und auch in der aktuellen Politik ausgelöst. Viele rechte Kritiker schrecken dabei nicht vor den schlimmsten Verdrehungen und Lügen zurück.

So wurde ihm wiederholt vorgeworfen, die treibende Kraft für die Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1983 gewesen zu sein und damit die Hauptverantwortung für Tausende von Toten zu tragen, die im Krieg gegen die Contra gefallen sind. Dabei war die allgemeine Wehrpflicht bereits im Historischen Programm der FSLN verankert, sie war Teil des Regierungsprogramms der Revolutionsjunta ab 1979 und ist auch in die Verfassung von 1986 aufgenommen worden. So werden jetzt die Sandinisten für den Contra-Krieg der 1980-er Jahre verantwortlich gemacht, während es die US-Regierung war, die die Contras organisiert, bewaffnet, befehligt hatte. Die USA wurden für diesen illegalen Aggressionskrieg gegen Nicaragua 1986 sogar vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen des Bruchs des Völkerrechtes verurteilt.

Außerdem wird er beschuldigt, die Diktatur Ortega-Murillo unterstützt zu haben. Dabei hat er in den letzten Jahren immer wieder öffentlich gegen die Repression und für eine Demokratisierung Nicaraguas Stellung bezogen. Er hat die blutige Repression von 2018 scharf kritisiert; er hat sich 2021 für die Freilassung der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten ausgesprochen; er hat 2023 den prominenten politischen Gefangenen Bischof Rolando Álvarez in Schutz genommen. Und er hat in seinem letzten großen Interview vom 19. Mai nochmals die Unterdrückung kritisiert und einen Dialog verlangt.

Rache der Diktatur

Aus Rache für Humbertos öffentliche Kritik verbot die Regierung jegliche öffentliche Trauer- oder Gedenkveranstaltungen und erlaubte noch nicht einmal eine Totenwache, die in der nicaraguanischen Kultur tief verwurzelt ist. Er wurde am 1. Oktober im engsten Familienkreis beigesetzt. Daniel Ortega nahm an der Beerdigung teil, Rosario Murillo nicht. Obwohl Humberto einer der wichtigsten historischen Führer der FSLN, General und Oberbefehlshaber der Armee, Verteidigungsminister und einer der prominentesten Politiker Nicaraguas in den letzten 50 Jahren war, wurde er ohne jegliche militärische, staatliche oder sandinistische Ehrung beigesetzt.

Der Umgang des Militärs, der Staatsführung und des Orteguismus mit dem Tod Humbertos wirft ein Schlaglicht auf die aktuellen politischen Verhältnisse in Nicaragua. Obwohl er über viele Jahre hinweg der Oberbefehlshaber der Armee war, wurde er im ersten Statement des Armeekrankenhauses zu seinem Tod als „Patient Humberto Ortega“ – ohne jeden Bezug auf seine ehemaligen militärischen Ränge und Funktionen! – bezeichnet, weil die Armeeführung es nicht wagte, vor einer öffentlichen Verlautbarung von Ortega-Murillo eine eigene Stellungnahme abzugeben und die protokollarischen militärischen Ehrungen vorzunehmen. Erst nachdem die Regierung sich dazu durchgerungen hatte, die politischen und militärischen Leistungen Humbertos anzuerkennen, hat es auch die – Daniel Ortega völlig ergebene – Armeeführung gewagt, Humberto mit seinen militärischen Rängen und Funktionen zu nennen. Diese diskriminierende Behandlung wurde von vielen Offizieren und ganz besonders auch historischen Kämpferinnen und Kämpfern der Sandinistischen Revolution als eine schwere Zurücksetzung empfunden, die der Legitimität des Regimes selbst unter den treuesten Anhängern von Ortega-Murillo schweren Schaden zugefügt haben dürfte.

Humbertos letzter Kampf

In der letzten Botschaft seines Lebens, die er am 9. Juni 2024 über ein verstecktes Handy an die Internet-Zeitschrift Confidencial schickte, äußerte Humberto Ortega noch einmal sein Vertrauen in seinen Bruder Daniel und drückte seinen Wunsch aus, „die Annäherung, die Versöhnung und die Vereinbarungen zu suchen, die für das Wohlergehen eines jeden von uns Nicaraguanern notwendig sind [… um] die Probleme des Krieges, der Trauer und des Schmerzes zu lösen“.

Doch dieses Vertrauen und diese Hoffnung wurden mit äußerst grausamen und unmenschlichen Unterdrückungsmaßnahmen beantwortet. Humberto Ortega starb als politischer Gefangener unter völliger Vernachlässigung seiner medizinischen Versorgung und in totaler Isolation – Bedingungen, die ihm von seinem Bruder, Präsident Daniel Ortega, und seiner Schwägerin, Vizepräsidentin Rosario Murillo, auferlegt wurden. Er starb in seinem letzten Kampf, dem Kampf für Versöhnung und Frieden in Nicaragua.

12. Oktober 2024