Epochenwechsel in Lateinamerika ist eine profunde Analyse der politischen Transformationen in Lateinamerika seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Texte in diesem Buch sind alle bereits im Zeitraum von 2010 bis 2016 erstellt und publiziert worden. Wer eine aktuelle Darstellung und Einordnung neuerer Ereignisse erwartet mag das als ein Manko betrachten, das durch das ausführliche Vorwort der Übersetzerin Maria Cárdenas kompensiert wird, in dem sie das post-progressive Szenario, die neuen Protestwellen, kollektive Alternativentwürfe zu Energie, Umwelt und Rohstoffpolitik in die zentralen Thesen und Kategorien des Buches einbettet.
Darin beschreibt die argentinische Soziologin und Feministin Maristella Svampa, wie soziale Basisbewegungen diesen Wandel entscheidend vorangetrieben haben. Sie verhalfen sogenannten progressiven Regierungen an die Macht, die ihr Wirtschaftsmodell und ihre soziale Umverteilung auf dem Neo-Extraktivismus aufbauten. Der Neo-Extraktivismus, eine Entwicklungsstrategie, die auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarland für den Export ausgerichtet ist, prägt die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der meisten Länder des Subkontinents bis heute. Die Rohstoffausbeutung und das Vordringen des Neo-Extraktivismus in Lateinamerika hat enorme Ausmaße angenommen und tiefgreifende Folgen für Mensch und Natur. Maristella Svampa analysiert ihn umfassend aus sozio-ökologischer und politischer Perspektive. Dazu arbeitet sie die historischen Konjunkturen heraus und schlägt für ein besseres Verständnis der Krise das Konzept des Rohstoffkonsens vor. In Bezug auf den sozio-ökologischen Widerstand führt sie das Konzept der ökoterritorialen Wende ein, das die Vorreiterrolle von indigenen Völkern und Frauen besonders betont. Svampa beschreibt, wie sich der Kapitalismus unter den angeblich linksgerichteten Regierungen entwickelte und mit welcher Härte in Lateinamerika gegen sozioökologische Basisbewegungen vorgegangen wurde und wird. Gleichzeitig stellt sie heraus, wie sich durch feministische Forderungen, indigene Bewegungen und Widerstandskämpfe gegen Monokulturen und offenen Bergbau Widerstand „von unten“ formierte, der durchaus Niederschlag in politischen Transformationen fand: vom „buen vivir“ in den Verfassungen Ecuadors und Boliviens über die Ausweitung indigener Autonomie bis hin zum Sozialprogramm „bolsa familia“ in Brasilien, das Millionen Brasilianer*innen von der Armut befreite. Svampa macht aber auch deutlich, dass das grundsätzliche Manko – das Privateigentum an gemeinschaftlichen Ressourcen – von linkspopulistischen Parteien nicht angegangen wurde, was die brutale Repression der Widerstandsbewegungen ebenso erforderte wie die Regierungswechsel herbeiführte.
Ihre Kritik und ihre Konzeptualisierungen ermöglichen ein Verständnis der jüngsten Geschichte Lateinamerikas, in der entscheidende Impulse „von unten“ kommen, während die Ursachen des Niedergangs im politischen Ansatz des Neo-Extraktivismus liegen. Svampa analysiert diese jüngsten politischen Prozesse, ohne die mittel- und langfristige Perspektive aus den Augen zu verlieren.
320 Seiten, Unrast-Verlag
Maristella Svampa ist auch Mitinitiatorin des Lateinamerikanischen Ökosozialen Paktes des Süden, der im Sommer 2020 gegründet wurde: PACTO ECOSOCIAL LATINOAMERICANO – Pacto Ecosocial Latinoamericano (pactoecosocialdelsur.com)