(10. Nov. 2021)
Mein letzter aufenthalt in nicaragua liegt 2 jahre zurück. Ich bin einen tag vor der wahl auf dem landweg eingereist. Die grenzkontrollen waren ausufernd bürokratisch und teilweise von absurd-kafkaeskem chaos geprägt – muy nica, letztendlich nett. In den städten und ortschaften, die wir auf dem weg nach managua durchfuhren, war eine hohe polizeidichte zu beobachten; sehr viele antimotines (polizeikorps spezialisiert auf die auflösung/zerschlagung von protesten) waren an strategischen kreuzungen stationiert, aufgesessen auf ihren pickups. Ebenfalls auffällig: so gut wie keine sichtbare wahlwerbung, ganz vereinzelt quer über die straßen gespannte banner der oppositionsparteien, welche sich mit der regierenden FSLN in einem wahlbündnis zusammengeschlossenen hatten.
Samstag, der 6.11. war der erste tag einer auf insgesamt 3 tage angesetzten wahlboykottkampagne, die von der UNAB ausgerufen worden war, einem Bündnis von parteien und gruppen der zivilgesellschaftlichen opposition.
Die darin verbundenen parteien waren entweder verboten worden oder ihre präsidentschafts-kandidaten wurden vor der wahl verhaftet. Sie befinden sich bis jetzt mehrheitlich in isolationshaft, einige wenige in verschärftem hausarrest.
Zumindest in managua war weder für mich noch für die von mir dazu befragten bewohner eine sichtbare auswirkung des aufrufs im straßen- und öffentlichen nahverkehr erkennbar, auch nicht beim einkaufsverhalten.
Unübersehbar eine durchgängig hohe polizeidichte, sowohl stationär als auch patrouillentätigkeit. Die masse der polizisten und antimotines war im gegensatz zu sonst nicht mit mehrschüssigen schrotflinten, sondern mit kalaschnikow-sturmgewehren bewaffnet.
In der nacht von samstag auf sonntag soll es mindestens 14 verhaftungen gegeben haben, es gibt berichte von bis zu 20. Im gegensatz zu sonst verliefen sie hauptsächlich „non violento“ (ohne „unnötige“brutalität), bis auf die mitnahme von compis und telefonen gab es auch keine weiteren hausdurchsuchungen, die meist mit plünderungen und diebstahl durch die beteiligten personen (polizei u.a. – meist paramilitärs) einhergehen. In einigen fällen drangen polizist:innen über rückwärtige mauern oder zäune, teilweise auch über nachbarhäuser paralell zum klopfen an der haustür ein, um das unbrauchbar machen/sperren/löschen der technischen geräte zu verhindern.
Der sonntagmorgen verlief sehr ruhig. Drei häuser weiter befindet sich ein wahlbüro. Davor 2 polizisten mit normaler bewaffnung, etwas entfernt eine doppelstreife auf motorrädern, der sozius mit pumpgun. Vor und im wahlbüro herrschte gähnende leere. Die durch unterschiedliche aufdrucke auf ihren t-shirts gekennzeichneten wahlhelfer:innen standen tatenlos rum. – Laut offizieller angaben waren landesweit insgesamt 16.665 polizisten zur gewährleistung eines ruhigen, störungsfreien wahlprozesses eingesetzt.
Zwischen 9 und 11h bin ich durch mehrere barrios gefahren. In den barrios wieder so gut wie keine aktuelle wahlwerbung, vereinzelt FSLN-fahnenschmuck und -flatterbänder. Vor den wahlbüros standardmässig polizeischutz (s.o.).
An allen orten war auffällig, dass alte, in ihrer beweglichkeit eingeschränkte menschen, viele rollstuhlfahrer unter begleitung gebracht bzw. abtransportiert wurden. Das geschah eindeutig durch aktivisten der frente. Ich habe nur den einsatz von privatfahrzeugen (vom nobel-SUV bis zur motor- bzw. fahrradrischka) beobachtet, es wird aber sowohl von urnas abiertas als auch in den sozialen netzwerken der massenhafte einsatz von staatlichen, institutionellen fahrzeugen dokumentiert. Ein begleiter von mir kommentierte das mit den worten: „Die schleppen alle zur wahl, die nicht weglaufen können!“
In XXX begleitete ich einen wähler bis zum büro. Es gab insgesamt 3 lokale in unterschiedlichen pavillons einer schule. Auch hier wg. treppen großes behindertenhelfen, keine schlange weit und breit. Inklusive registrierung, verifizierung und stimmabgabe plus schwärzung des daumens dauerte es weniger als 5 minuten. Ein – laut t-shirt – koordinator war völlig unglücklich, dass ich nicht wählen durfte/konnte/WOLLTE.
Anschliessend wurden im einzigen, teilunabhängigen tv-kanal, den es noch gibt, direkte korrespondentenberichte aus den verschiedenen regionen des landes oder handyvideos eingespielt. Es war wohl so, das sowohl die frente-aktivisten und -mitglieder als auch die staatlichen oder halbstaatlich angestellten und arbeiter dazu verpflichtet worden waren, morgens früh wählen zu gehen. Dabei ist es tatsächlich zu schlangenbildung gekommen.
[Es gibt haufenweise rundschreiben von der regierung nahestehenden institutionen oder firmen, in denen die mitarbeiter bis ins detail instruiert werden, wie sie zu wählen haben und wie sie ihre teilnahme zu dokumentieren haben – selfie mit wahlschein etc.)
Besonders beeindruckend war, wenn eine hundertschaft der polizei, ordentlich aufgereiht, darauf wartete, ihren oberbefehlshaber wählen zu dürfen. Oder auch militärs. In den offiziellen kanälen wurde immer wieder darauf hingewiesen, das der wahlvorgang, DANK DER GUTEN ORGANISATION DURCH DAS BUEN GOBIERNO, gar nicht lange dauern würde! Und so war es auch, am nachmittag tröpfelten wähler:innen in die verschiedenen wahlzentren, häufig vorher durch telefonanrufe ihrer arbeitsstellen oder durch frente-aktivisten freundlich daran erinnert.
Die wahlbeteiligung muss am vormittag so gering gewesen sein, das der noch-präsident und schon -wieder-präsidentschaftskandidat daniel ortega sich veranlasst sah, durch eine rede ans volk motivierend einzugreifen. Das ganze über cadena nacional – also pflichtübertragung zeitgleich auf allen radio- und fernsehkanälen.
Es war eine kleine veranstaltung, ein sälchen mit ca 50 hauptsächlich jungen in covid-sicherheitsabstand platzierten menschen, einheitlich gekleidet mit weissem hemd/oberteil und blauweissem halstuch. Drumherum und vor dem rednertisch, wo er neben der gattin und mitkandidatin sass, die üblichen 2-3 kubikmeter teils gefärbter blumenschmuck (was die farbzusammenstellung bedeuten soll, weiß nur frau murillo…) Im hintergrund, welch staatstragende überraschung: Diesmal keine einzige FSLN-fahne, dafür die nationalflagge mehrfach und flächendeckend. Die rede war für seine Verhältnisse recht kurz und wurde fast fehlerfrei vorgetragen. Der inhalt, verkürzt: Wer wählt ist für den frieden; die opposition sind terroristen, die mit ihrem staatsstreich gescheitert sind. Wenn es mit dem wohlergehen der bevölkerung (impfung, krankenhäuser strassenbau) weitergehen soll, muss man wählen gehen. Nationalhymmne. Tapferer applaus. Ausmarsch. Klatschmarsch.
Geholfen hats nicht viel. um 18:00 schlossen die wahlzentren. Es wurde immer wieder hervorgehoben, man könne bis zum schluss kommen, evtl. schlangen würden abgearbeitet…
Viele zentren blieben nachmittags weitgehend leer.
Kurz nach 21h gab die organisation URNAS ABIERTAS in einem interview mit dem in nicaragua verbotenen sender Confidencial erste zahlen bekannt. Urnas abiertas ist eine struktur innerhalb der zivilgesellschaftlichen opposition, die schon seit monaten die wahlvorbereitungen dokumentiert und kritisiert. Sie hatte sich auf den wahltag mit über 1000 – natürlich nicht offen arbeitenden – beobachter:innen aus den reihen der opposition vorbereitet und 563 wahlzentren beobachtet. Auch innerhalb der offiziellen wahlstrukturen hatten sie unterstützer:innen und informant:innen plaziert. Sie gehen davon aus, dass die wahlbeteiligung im landesdurchschnitt bei gut 18% lag. Andersherum gerechnet: Über 80% der wähler:innen hat den gang zu den urnen verweigert. Das ist für die opposition ein tolles ergebnis! Es zeigt, dass die überwältigende mehrheit der wahlberechtigten bevölkerung – das sind ca. 4,4 mio. bei ca. 6,6 mio. einwohnern, wahlalter ab 16 – die von der regierung ortega-murillo inzenierte wahl verweigert hat.
Die sieht das natürlich ganz anders: Laut wahlrat lag die wahlbeteiligung bei 65,34%, daniel und co. wurden mit 74,99 % gewählt. JUBEL – alles gut, weiter so. Und das ist das problem.
Montag nachmittag gab es einen grossen festakt der sieger. Der strahlende sieger hielt eine der üblichen langen reden, ein streifzug durch die geschichte. Und dann brach es aus ihm heraus: In anlehnung an den berühmten satz eines us-präsidenten, der sagte, somoza sei zwar ein „hundesohn (son of a bitch), aber UNSER hundesohn“, bezeichnete der regierende und wieder-„gewählte“ präsident – oberbefehlshaber der armee und polizeikräfte, liebender ehegatte der vize-präsidentin-gattin, erfolgreicher unternehmer, vater vieler unternehmerisch auch sehr erfolgreichen kinder – die politischen gefangenen als „hijos de perra“ (s.o.) und sagte, sie sollten dahin gehen, wohin sie gehören, in die usa. Sie seien keine nicaraguaner mehr. Dann folgten noch einige nicht sonderlich diplomatische auslassungen über staaten, die diese wahlen nicht anerkennen – die aber nichts destotrotz seit monaten der regierung durch spenden ermöglichen, ihre spät begonnene und schlecht organisierte impfkampagne durchzuführen. (Über 50.000 nicas haben sich zwischenzeitlich in honduras, direkt hinter der grenze, impfen lassen, natürlich umsonst. In managua werden dafür busreisen angeboten, natürlich nicht umsonst, für 40 us$).
Der staatshaushalt ist durch finanzspritzen der amerikanischen entwicklungsbank (BCIE) für ca. 6 weitere monate gesichert. Die coronahilfsgelder sind auch nützlich, wenn man sie einsetzen kann, wie man will. Die nicaraguanische wirtschaft und ihre verbände prosperieren über umfassende kreditfinanzierte bauvorhaben (die strassen sind wirklich besser geworden). Ein teil der daran beteiligten firmen gehören dem militär, der polizei und natürlich auch DER familie bzw. deren strohmännern. Dass der vorsitzende des wirtschaftsverbandes COSEP und sein vertreter zu den neuen häftlingen der vorwahlzeit gehören, hat seinen regierungsnahen nachfolger nicht gestört. Man schweigt und verdient weiter. Gut. Aus den reihen der FSLN gab es andeutungen bezüglich eines neuen nationalen dialogs nach der wahl. Es wird spekuliert, dass es von seiten der regierung im austausch gegen wohlverhalten, ausreise (im zweifelsfall ausbürgerung richtung usa) zu entlassungen aus dem gefängnis kommen könnte. Wie viele und welche der politischen gefangenen das betreffen könnte, ist völlig unklar. Wer sich von den oppositionellen gruppen darauf einlassen würde und zu welchen konditionen, ebensowenig. Eine weitere spaltung und damit erschwernis, zu einheitlichen positionen zu kommen, ist wahrscheinlich.
Die haftbedingungen für die „historischen“ politischen häftlinge und für die 40 neuen geiseln der letzten monate sind unmenschlich. Es scheint das ziel zu sein, sie physisch und psychisch zu zerbrechen. Ihre angehörigen stehen unter permanenter verfolgung, verlust des arbeitsplatzes, druck durch nachbarn und lokale parteistrukturen; häufig sitzt der ernährer der familie ein.
Die im land verbliebenen oppositionellen aktivisten stehen, soweit sie bekannt sind, unter vielfachem, ständigen druck. Vom polizeiauto vor der tür über drohanrufe und terror in den sozialen netzwerken bis hin zu tätlichkeiten ist alles normalität. Verhaftungen finden ständig statt. Die klandestin arbeitenden stehen unter hohem verfolgungsdruck.
Die fähigkeiten der regierung in bezug auf it-kommunikation beschränken sich nicht auf trollfarmen. Aufklärung wird mit international eingekaufter spyware betrieben. Die infiltrationsversuche sind dank kubanischer erfahrung und hilfe an der tagesordnung. Sicherlich sind sie auch – zumindest teilweise – erfolgreich. JedeR, der nicaragua verlässt, um sich oder seine familie zu schützen, sollte unser vollstes verständnis finden. JedeR, der weitermacht, verdient unsere volle unterstützung in jeder form.
Die situation im exil ist hart. Die physische sicherheit scheint nicht das hauptproblem zu sein, bis auf ein noch nicht aufgeklärtes attentat in costa rica und ungeklärte ermordungen in honduras. Die lebensbedingungen der masse der flüchtlinge sind prekär. Costa rica ist ein teures land, working poor ist für die masse der legal arbeitenden normalität. In dieser situation als halblegaler oder illegaler zu arbeiten, bedeutet hunger. Die lebensmittelpreise sind hoch, die mieten noch höher. Die wohnbedingungen sind beengt, die gesundheitsversorgung ist nur für anerkannte flüchtlinge garantiert. Es gibt andauernd probleme mit dem schulbesuch der kinder und dessen finanzierung.
Eine politische einheit im exil besteht nicht. Kleinster gemeinsamer nenner scheint die bedingungslose freilassung aller gefangenen zu sein. Gleichzeitig weiß man inzwischen aus erfahrung, dass für jedeN, der rauskommt, ein andereR wieder einfährt.
Die gemeinsame erfahrung der meisten im inland und im exil ist enttäuschung, geringe hoffnung auf politische veränderung und frustration. Es gibt eine ahnungsvolle, aber gleichzeitig mit ängsten besetzte hoffnung auf den grossen knall, wenn nämlich die wut die angst besiegt. Der erfolgreiche, passive widerstand durch den wahlboykott hat aber nicht etwa den widerstandsgeist gestärkt, sondern eher dazu geführt zu sagen: „Bueno – aber was hat‘s geändert und wird es ändern? Jetzt wird es noch schlimmer als vorher.“
Wie geht es also weiter? Der internationale druck (von seiten europas, der usa, der oas) mag zunehmen, wird aber ortega-murillo nur in ihrem helden- bzw. märtyrernarrativ bestärken. Schon seit 2018 sind sie gefangene ihres luxusgefängnisses el carmen, wenn auch ohne spürbare einschränkungen für sich und die mitsanktionierten. Was den internen druck auf die ortega-familie erhöhen könnte, wären massive wirtschaftliche sanktionen (über 70% der exporte gehen in die USA), die alle sektoren der wirtschaft treffen, u.a. die pensionskassen von militär und polizei. Solche maßnahmen würden sich schnell und noch umfassender als die covidbedingten wirtschaftsprobleme auf die gesamte bevölkerung auswirken. Ob das zu einem regierungswechsel führen könnte, ist reine spekulation oder wunschdenken auf kosten anderer. Noch keine diktatur ist jemals durch politischen druck von außen gestürzt worden.
Es gilt weiterhin und mehr als je zuvor, jegliche form von zivilgesellschaftlicher opposition in nicaragua und anderswo zu unterstützen: Finanziell, durch informationsarbeit, in der öffentlichkeit.
Al final solo los nicas salvan a los nicas. Wir können und müssen dabei helfen.