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Tagungsbericht: Von Engels gelernt?

Lateinamerika ist in mehrerlei Hinsicht ein aussergewöhnlicher Kontinent:

  • Es existiert die krasseste soziale Ungleichheit zwischen größtem Reichtum und extremster Armut
  • Die Ökonomie und Politik ist -trotz 200jähriger politischer Unabhängigkeit- fast ungebrochen auf Rohstoffexporte (Zucker, Agrosprit, Soja, Fleisch, Bergbau, Kohle, Metalle für globale Produktionsunternehmen und unsere imperialen Lebensweisen ausgerichtet
  • Gleichzeitig aber gilt Lateinamerika als Experimentierfeld für neue politisch-ökonomische Ansätze der Selbstorganisation (plurinationale Staaten, Kooperativen und Gemeinwohlökonomie,

So wie es genau diese Gründe (soziale Ungerechtigkeit, imperiale Allianzen zwischen Oligarchie und Imperialistischen Interessen, innovative Gegenbewegungen) waren, die uns Ende der 70er Jahre das Volk und die Revolutionäre in Nicaragua unterstützen liesen, haben wir auch aus diesen Gründen über 40 Jahre emanzipatorische Bewegungen  in Mittelamerika begleitet, sie führten die gleichen oder ähnlichen Kämpfe, wir haben die Interessenkongruenz zwischen den hier wie dort herrschenden Eliten skandalisiert, und weil wir auch von den Kämpfen lernen wollten.

Deshalb war uns auch klar als vor 2 Jahren die Planungen zum Wuppertaler Engels 2020 Programm begannen, dass wir diesen Raum nutzen wollen. Und wir haben zusammen mit dem AK Lateinamerika der BUW diese Tagung konzipiert. Wir wollen nicht nur hinschauen, welches theoretische Rüstzeug gibt es in den Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus, das wir nutzen können für die sozialökologische Transformation, und wie wurde es fortentwickelt und in Lateinamerika erprobt. Ergänzend zum eher universitären Blick wollen wir auch den Austausch zu Aktivistinnen, Bewegungsforscherinnen und Bewegungen, weil wir uns fragen: Was können wir von den neuen sozialen, territorialen, indigenen und feministischen Bewegungen, den Kooperativen, den selbst so genannten autoconvocadas für unsere eigene Organisierung lernen?

Wir halten es da sehr mit dem Wahlspruch: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern“

Und das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Mit 50 in Präsenz teilnehmenden und weiteren ca 20 digital zugeschalteten fand an der Bergischen Universität die erste größere Veranstaltung seit Beginn der Covid-19-Pandemie statt. Von den sechzehn Vortragenden, war die Hälfte via Internet zugeschaltet. Die zweitägige Veranstaltung war in vier Blöcke mit jeweils drei bis 4 Referent*innen gegliedert, zusätzlich gab es noch Gesprächsrunden zur Coronakrise in Lateinamerika und zum Potenzial von linken Utopien und emanzipatorischer Praxis. Im ersten Panel Auf den Spuren von Engels in Lateinamerika gaben Ronaldo Munck (Dublin), Nikolaus Werz (Rostock) und Soledad Escalante Beltrán (Lima) einen ideengeschichtlichen Überblick, der dann mit den sozio-ökonomischen Problemen der Region verknüpft wurde. Karin Fischer (Linz) fokussierte dabei auf Klassenherrschaft und Weltmarktstrukturen, und auf die sich gegenseitig ablösenden Entwicklungsstrategien z.B. der lateinamerikanischen Wirtschaftskommission CEPAL. Olaf Kaltmeier, Professor für Iberoamerikanische Geschichte an der Universität Bielefeld, prägte die These der „Refeudalisierung in Lateinamerika“. Die Reichen schotten sich zunehmend ab, autokratische Herrschaftsformen nehmen zu, sozialräumliche Segregation wird stärker. Ihren Reichtum beziehen sie durch extraktivistische Ressourcenausbeutung, Landgrabbing, Drogenökonomie und organisierte Steuerhinterziehung. Bleibt die große Preisfrage, warum sich auch die infolge der Linksregierungen aufgestiegene Mittelklasse von diesen abwendet und einen globalen „Rechtsruck“ begründet. Diskutiert wurde wie Maßnahmen gegen die Refeudalisierung aussehen und wer diese durchsetzen könnte. Der Beitrag von Sandra Ramos, Feministin, Gründungsdirektorin und amtierende Leiterin der Gewerkschaft der Textilarbeiterinnen Nicaraguas sowie in der mittelamerikanischen Koordination der Textilarbeiterinnengewerkschaften, war gerade in Wuppertal von großer Bedeutung. So steht die globale Textilindustrie im Zentrum der Programmaktivitäten des Wuppertaler Engelsjahres. Im Wuppertal ist mit dem Spinnen, Weben, Bleichen und Färben die Wiege der Frühindustrialisierung entstanden. Sie war der Motor für Maschinen, Kohle und Eisen, Strassen und Eisenbahnen, Schiffahrt und Handel. Die damit verbundene ursprünglich lokale Ausbeutung von Arbeitern und Natur war Ursprung des Kapitalismus, aber auch der Arbeiterbewegung und des wissenschaftlichen Sozialismus begründet u.a. durch Engels in Wuppertal. Die Verlagerung der Textilproduktion in globale Lieferketten, Arbeitsbedingungen in der Maquila Industrie und gewerkschaftliche Strategien waren die Themen von Sandra Ramos, deren Beitrag Ihr hier anhören könnt (Untertitel in deutsch). „Wir brauchen mehr Analysen und wir brauchen eine globale Strategie, die es ermöglicht, dort wo sich diese Industrie bewegt, die universellen Rechte durchzusetzen, die Menschenrechte für arbeitende Männer und Frauen in der Welt zu erreichen.“

Vier Beiträge spürten den Bedingungen für das Scheitern des Sozialismus nach. Staatsstreiche seien es jedenfalls nicht, so belegte Detlef Nolte (Hamburg) an Beispielen aus Chile, Paraguay, Honduras und Brasilien, denn sie seien nicht die Ursache, sondern nachfolgendes Ergebnis einer bereits vorher eingetretenen Krise politischer  Herrschaft. Klaus Meschkat (Hannover) stellte das Ergebnis seiner mehrjährigen Untersuchungen in den Archiven der Komintern in Moskau vor, aus denen er viele Belege gewinnen konnte, wie linke Parteien und emanzipatorische Bewegungen Lateinamerikas sich den ideologischen Winkelzügen, dem Avantgardeanspruch, dem demokratischen Zentralismus, den Volksfrontstrategien oder den spezifischen Interessen der Sowjetunion unterwerfen mussten und dadurch eine lebendige autochtone Entwicklung verhindert wurde. Bert Hoffmann (Berlin) bilanzierte Cuba in jeder Hinsicht als Sonderweg, es sei kein Produktions-, sondern ein Verteilungssozialismus, der sich durch die libreta (Gutscheinheftchen) und den Ausbau staatlicher Gesundheits- und Bildungssysteme ausdrücke. Raúl Zelik (Parteivorstand der Linken) belegte seine These, dass mit dem Scheitern linker Regierungen, wie aktuell in Lateinamerika, nicht der Sozialismus scheitere und auch nicht die sozialen Bewegungen und emanzipatorischen Kräfte die mit ihren Dynamiken solche Regierungen hervorgebracht haben, vielmehr scheitere nur der entsprechende Macht- bzw. Klassenkompromiss. Es setze allerdings eine Autonomie der Bewegungen voraus sich nicht im Regierungshandeln vereinnahmen zu lassen bzw. drin aufzugehen.

Den Blick von unten gab es im Panel  Emanzipation und Partizipation durch Beiträge zum emanzipatorischen Potential und den Grenzen der Arbeiterkontrolle in Argentiniens Besetzten Betrieben (Aaron Tauss, Medellin), zur indigenen Autonomie und urbanen sozialen Bewegungen in ihrem Bezug zu kollektivem Eigentum als emanzipatorisches Projekt (Philipp Wolfesberger, Berlin / Mexiko) und zu den feministischen Impulsen und Dynamiken (Veronica Gago, Buenos Aires).

Annette von Schönfeld, Leiterin des Büros in Rio de Janeiro der Heinrich Böll Stiftung, und Raúl Zibechi, ehemaliger Tupamaro-Aktivist und heute einer der bedeutendsten Linksintellektuellen Lateinamerikas, waren die Teilnehmer*innen eines Gesprächs über „Corona in Lateinamerika: Strategische Herausforderungen für soziale Bewegungen, Praxis der Selbstorganisation und postkapitalistische Politik“.  Dabei berichtete Annette von Schönfeld nicht nur über den verantwortungslosen Umgang von Präsident Bolsonaro mit der Corona-Krise und die Konflikte innerhalb der Regierung sowie die wütenden Proteste gegen den Präsidenten, besonders in den Armenvierteln, die von den Bolsonaro-Anhängern immer mal wieder mit voll aufgedrehter Nationalhymne beantwortet werden. Neben der in der SARS-CoV-2 Krise an Fahrt aufnehmenden Polarisierung betonte sie den hohen Grad an Selbstorganisation in der solidarischen Verteilung von Lebensmitteln und Hygieneprodukten, bei sanitären und Gesundheitsmaßnahmen. Raúl Zibechi hob besonders auf den spezifischen Charakter von sozialen Bewegungen Lateinamerikas ab, die sich von den Dynamiken in Europa oder den USA unterscheiden, indem sie als territoriale Bewegungen (Indigene, Campesinos, Stadtteilorganisationen) ein Territorium kontrollieren und sich von der „Restgesellschaft“ sozial bzw. kulturell abgrenzen. Unter ihnen herrschen nichtkapitalistische Beziehungen, statt Staatsmacht entscheiden Versammlungen und räteähnliche Strukturen. Mithilfe ihrer territorialen Beziehungen widersetzen sie sich nicht nur dem dominanten politisch-wirtschaftlichen System, sondern zeigen sich auch als Träger für eine nichtkapitalistische Alternative auf, statt um die politische Macht im traditionellen Sinne zu kämpfen. In Corona-Zeiten ermögliche dies einen weitgehenden Verzicht auf die -verbotenen- Demonstrationen, eine Abschottung nach aussen und die Vertiefung ihrer sozial-ökonomischen Beziehungen nach innen (Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas, Assoziation A, Berlín, 2011.Tiempos de colapso. Los pueblos en movimiento. Ediciones desde abajo, Bogota 2020).

Flankiert wurde die zweitägige Konferenz durch eine öffentliche Podiumsdiskussion mit dem Blick auf jüngste Erfahrungen, insbesondere dem utopischen Gehalt jüngerer Sozialbewegungen wie der feministischen „Ni una menos“-Bewegung oder den sozialen Protesten des Jahres 2019 und das oft ambivalente Verhältnis utopischer Entwürfe zum Staat. Welches Verhältnis haben sie zum Staat, welchen Stellenwert spielen alternative Wirtschafts- und Eigentumsformen? Inwieweit entstehen Alternativen aktuell eher auf der lokalen Ebene und welche möglichen Probleme bringt das mit sich? Was wir in Europa von den aktuellen linken Utopien und emanzipatorischen Praxen lernen können, hat uns zwei Tage beschäftigt. Videoclips und eine Tagungsdokumentation sollen die Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit verfügbar machen.