Wolfram Stierle ist promovierter Ökonom und Theologe und Leiter der Stabsstelle „Dialog Werteorientierte Entwicklungspolitik“. Selbst also in leitender Verantwortung, unternimmt er in dem Buch den Versuch 60 Jahre Entwicklungspolitik durch die Augen ihrer Kritiker darzustellen und daraus auch ein eigenes Fazit zu gewinnen. So entsteht eine kritische Bilanz, indem er dekadenweise wichtige Autor:innen der Entwicklungskritik, angefangen von Prebisch, Frank, Illich, Wallerstein, Boserup, Erler, de Soto, Sachs, Escobar, Wallerstein, Acosta und Brand, insgesamt 29 Autor:innen, zu Wort kommen lässt und ihre Botschaften in jeweils einer der sechs „Entwicklungsdekaden“ zusammenfasst.
Dadurch liest sich das Buch wie ein Rückblick nicht nur auf die von „Entwicklungshilfe“ zu „Entwicklungszusammenarbeit“ umbenannte Entwicklungspolitik, sondern auch auf weit darüber hinausgehende Kritiken am Entwicklungsdenken, also an dem was uns in der politischen Sozialisierung persönlich und im internationalistischen Kollektiv des Infobüros die letzten Jahrzehnte begleitete: von der expertokratischen Grundhaltung, der Rückständigkeit erzeugenden Einbindung in die Weltwirtschaft, der Orientierung am westlich geprägten Medizin-, Bildungs- und Konsumsystem (60er Jahre), der Forderung nach Eigenständigkeit der Peripherie (70er Jahre), der Kritik westlicher Ideologien und makroökonomischer Strukturanpassungsprogramme (80er Jahre), einer hegemonialen Globalisierung in der Entwicklung in Gestalt von Industrialisierung, landwirtschaftlicher Modernisierung und Urbanisierung immer Kolonialisierung bleibt und ein Wandel zum Besseren nur durch Abbruch aller Hilfe möglich ist (90er Jahre), der nicht konsistenten und widersprüchlichen Milleniumsziele und Kritik der Entwicklungsindustrie (00er Jahre) und schließlich an der imperialen Lebensweise, am Zementieren von Unterentwicklung und Abhängigkeiten zwischen Zentrum und Peripherie, die nur überwunden werden können durch politischen Widerstand in den Peripherien, Alternativen zum Entwicklungsdenken wie das andine buen vivir, Konturen einer solidarischen Lebensweise und Praxen, die die Gesellschaft von ihren Rändern grundsätzlich in frage stellen, wie Zukunftsräte, global kooperierende Städte oder Care-Revolutionen.
In einem weiteren Kapitel konzediert Stierle, dass eine grundsätzlichere Kritik an der Entwicklungspolitik möglich sein muß und fasst sie auch gleich in fünf Punkten zusammen: er benennt 1. fortexistierende Widersprüche und Aporien (Armutsbekämpfung, Globalisierung, Demokratieförderung, Menschenrechten, Hilfe von außen, Extraktivismus), die 2. Überforderung in Komplexität und Kohärenz (bei den Milleniumszielen, Korruption und Good Governance), beklagt 3. den Hang zu Omnipotenzphantasien in der Entwicklungszusammenarbeit, 4. die mißlingende Wechselbeziehung zwischen Globalisierung und Partnerschaft und 5. Die verunsichernde Rolle von Weltanschauungen und Religionen. Zwar entwickelt Stierle hier seinen eigenen Argumentationsfaden, bezieht aber immer auch die Außenkritiken von vielen Vordenker:innen ein.
Angesichts dieses kritischen Panoramas wagt Stierle einen positiven Ausblick im Abschlußkapitel: er benennt fünf Zukunftskompetenzen für nachhaltige Entwicklung. Diese Kompetenzen (Ambivalenzkompetenz, Transformationskompetenz, Modernitätskompetenz, Legitimitätskompetenz und Religions-/Wertekompetenz), so die Einschätzung von Stierle, werden in der EZ dezidiert nicht diskutiert, obwohl sie nach dem Durchgang durch die Kritikgeschichte evident erscheinen und Potenziale bieten zur Gestaltung der notwendigen Veränderungen.
Dass der Autor „eine kultursoziologische Neubewertung der tradierten Ansichten von Fortschritt, Modernisierung und Moderne“ ebenso wie eine praktische Vorstellung von Transformation in den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDG) der UNO vermisst, zeigen worauf der Autor hinauswill. Wenn er dann die Frage stellt, „ob die Lebensweise der Industrienationen und ihrer Gesellschaften historisch nicht in einer Reihe mit Sexismus, Rassismus und Sklaverei landen wird: lange legal, zunehmend als illegitim erkannt und viel zu spät als illegal erklärt“, hätte man eine so radikale Kritik am Wachstums- und Entwicklungsparadigma nicht von einem Vertreter aus dem Leitungsstab des BMZ erwartet. Wenngleich andere Akteur:innen wie soziale und politische Bewegungen und ihre Protest- und Organisationsformen weitgehend ausgespart werden, ist das Buch trotzdem ein kenntnisreiches Plädoyer für ein neues Denken und Handeln für den notwendigen tiefgreifenden Kulturwandel.
Wolfram Stierle: Überleben in planetaren Grenzen, 192 Seiten, oekom Verlag 2020